Geplante Demonstration am 4.11. in Berlin
[ohne Datum]
Information Nr. 484/89 über die für den 4. November 1989 in der Hauptstadt der DDR, Berlin, initiierte Demonstration von Kunst- und Kulturschaffenden
Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen soll die zwischenzeitlich von den zuständigen staatlichen Organen genehmigte Demonstration nach aktuellen Erkenntnissen am 4. November 1989, um 10.00 Uhr, in der Mollstraße/Ecke Prenzlauer Allee (Sammelpunkt) beginnen und über die Karl-Liebknecht-Straße, den Marx-Engels-Platz, am Gebäude des Staatsrates vorbei, über die Rathausstraße führen und etwa 14.30 Uhr auf dem Alexanderplatz beendet werden.1
Die Demonstration soll unter dem Thema: »Artikel 27 und 28 der Verfassung der DDR«2 stehen. Als Redner während der im Verlauf der Demonstration durchzuführenden Meetings hätten folgende Persönlichkeiten ihre Zusagen gegeben: Rechtsanwalt Dr. Gysi,3 Christa Wolf,4 Prof. Lothar Bisky5 (Rektor der Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam-Babelsberg), Christoph Hein6 (Schriftsteller). Außerdem sollen Prof. Dr. Manfred Gerlach7 (Vorsitzender der LDPD), ein namentlich noch zu benennender prominenter Vertreter des Verbandes der Journalisten der DDR sowie Walter Janka,8 ehemaliger Direktor des Aufbau-Verlages (dessen Rehabilitierung der Präsident der Akademie der Künste der DDR, Manfred Wekwerth,9 am 26. Oktober 1989 im Fernsehen der DDR, Sendung Kulturmagazin, gefordert hatte) als Redner gewonnen werden.
(Diese »Demonstration für Medienfreiheit entsprechend der Inhalte der Artikel 27 und 28 der Verfassung der DDR« wurde im Rahmen vielfältiger Aktivitäten bestimmter Kunst- und Kulturschaffender, insbesondere durch Mitglieder der Akademie der Künste der DDR, des Deutschen Theaters Berlin und der Sektion Rockmusik des Komitees für Unterhaltungskunst initiiert, wobei anfangs die Personen Christa Wolf, Jutta Wachowiak,10 Jürgen Eger11 und Tamara Danz12 inspirierend in Erscheinung traten. Ein entsprechender Antrag auf Genehmigung der Demonstration wurde am 17. Oktober 1989 vom Schauspieler Wolfgang Holz,13 Vertrauensmann der Gewerkschaftsgruppe Schauspiel des Berliner Ensembles, »im Auftrag von Angehörigen der Theater und Verbände unseres Landes« an die Abteilung Erlaubniswesen der VP-Inspektion Berlin-Mitte gerichtet.)
Nach Erteilung der Zustimmung wurde vom Präsidenten der Volkspolizei Berlin am 26. Oktober 1989 mit Hans-Peter Minetti14 (Präsident des Verbandes der Theaterschaffenden der DDR), Gisela Steineckert15 (Präsidentin des Komitees für Unterhaltungskunst der DDR) und Horst Singer16 (stellv. Vorsitzender des Zentralvorstandes der Gewerkschaft Kunst), ein Gespräch geführt, in dessen Ergebnis festgelegt wurde, dass die Demonstration nicht wie vordem vorgesehen am Berliner Lustgarten, sondern auf dem Alexanderplatz beendet wird; außerdem wurde die Teilnahme von verantwortlichen Angehörigen des Präsidiums der DVP an den nächsten Zusammenkünften der Organisatoren – genannt wurden dafür der 27 .Oktober 1909 in der Volksbühne und der 30. Oktober 1989 im Berliner Ensemble – vereinbart.
Während eines ebenfalls am 26. Oktober 1989 durch den Präsidenten der Volkspolizei Berlin im Präsidium der Volkspolizei geführten Gesprächs mit den mit der Vorbereitung der Demonstration Beauftragten (Wolfgang Holz, Angelika Perdelwitz17 (Schauspielerin, Berliner Ensemble), Marion van de Kamp18 (Vertrauensmann, Volksbühne), Thomas Neumann19 (Vertrauensmann, Deutsches Theater), Martin Vogler20 (BGL-Vorsitzender, Komische Oper), Prof. Hans-Dieter Meves21 (Vertrauensmann, Hochschule für Schauspielkunst Berlin), Steffi Spira22 (Ehrenmitglied des Verbandes der Theaterschaffenden der DDR) sowie der Berliner Volksbühne und Henning Schaller23 (Ausstattungsleiter, Maxim-Gorki-Theater)) versicherten diese, sich für einen reibungslosen Verlauf einzusetzen.
Zu bemerken ist, dass die anfangs genannten Initiatoren um die Schauspielerin Jutta Wachowiak nach intensiver Werbung für die Massendemonstrationen in der Phase der unmittelbaren Vorbereitung nicht mehr aktiv in Erscheinung treten. Außer den bereits Genannten, die am 26. Oktober 1989 im Präsidium der Volkspolizei am Gespräch teilnahmen, sind aktiv in die Vorbereitung einbezogen: Hahn24 (Volksbühne), Großkreutz25 (Komische Oper), Tschirner26 und Lew Hohmann27 (Dokumentarfilm-Studio), Bauer28 (DEFA-Synchronstudio) und Otmar Richter29 (Schauspielensemble Fernsehen).
Die Absicht zur Durchführung der Demonstration ist republikweit popularisiert worden, vornehmlich in Künstler- und Kirchenkreisen. Ein entsprechender Hinweis wurde auch in der Zeitschrift »Der Morgen« vom 16. Oktober 198930 veröffentlicht. In einer Reihe Veranstaltungen in diesen Kreisen wurde dazu aufgefordert, an der Demonstration teilzunehmen und den Termin der Demonstration weiterhin bekanntzumachen (z. B. während der vom Verband Bildender Künstler, Bezirksverband Berlin, am 16. Oktober 1989 durchgeführten »offenen Stunde«; während einer Zusammenkunft der Unterhaltungskünstler am 16. Oktober 1989 im Kulturhaus »Peter Edel«, Berlin); auch die telefonische Weitergabe des Termins der Demonstration wurde in verschiedenen Bezirken der DDR festgestellt.
Vertreter von Regionalgruppen des »Neuen Forums«31 in Bezirken und Kreisen nutzen politische Veranstaltungen in Kirchen und anderswo zur Propagierung der Demonstration. Am 25. Oktober 1989 wurde auch in der Erlöserkirche Berlin-Lichtenberg ein Zettel mit dem Hinweis auf die Demonstration festgestellt. In Berlin-Weißensee wurden am 26. Oktober 1989 26 im Ormigverfahren hergestellte Schriften mit dem Aufruf zur Teilnahme an der Demonstration sichergestellt (Text: Aufruf! Trefft Euch zur Demo … Fertigt Transparente und Plakate, auf denen Ihr Euren Protest gegen Zensur zum Ausdruck bringt).
Internen Hinweisen zufolge befürchten Organisatoren der Demonstration, durch die breite Popularisierung könnten Ordnung und gewaltloser Charakter nicht in Eigenverantwortung gewährleistet werden. In einer Beratung der Gewerkschaftsvertrauensleute der Theaterschaffenden Berlin am 24. Oktober 1989 wurde deshalb festgelegt, eine weitere Bekanntmachung größeren Stils – z. B. in Massenmedien – zu unterbinden, weil sonst die Teilnehmerzahl zu hoch ansteigen könnte. Einige Organisatoren brachten die Befürchtung zum Ausdruck, die Teilnehmerzahl könnte 500 000 Demonstranten erreichen, falls die Werbung dafür nicht gestoppt werde.
Progressive Kräfte unter Theaterschaffenden, wie der Intendant des Maxim-Gorki-Theaters Berlin, Hetterle,32 befürchten, dass feindliche Kräfte die vorgesehene Demonstration für ihre antisozialistischen Ziele missbrauchen könnten. Verwiesen wird auf die von der Bohley33 ausgesprochene Einladung an Wolf Biermann.34
Weiteren internen Hinweisen zufolge übermittelten dem MfS namentlich bekannte feindliche Kräfte Informationen zu Charakter, Inhalt und Zielstellung der Demonstration an Kontaktpersonen im kapitalistischen Ausland sowie in der DDR akkreditierte Korrespondenten.
Bemerkenswert ist, dass ein während der Demonstration am 21. Oktober 1989 tätiges Fernsehteam der »Aktuellen Kamera« ohne Kennung von bestimmten Personen angesprochen wurde in der Annahme, dass es sich um ein Team westlicher Fernsehsender handelt; es wurde aufgefordert, auch während der Demonstration am 4. November 1989 zu drehen, denn da würde »das größte Ding laufen, was es bisher gegeben habe«.
Hinweisen zufolge sind mit dem Ziel der politischen Einflussnahme zur Unterbindung von Handlungen und Aktivitäten, die das Ansehen von Partei, Staat und Sicherheitsorganen in der Öffentlichkeit schädigen, von zuständigen zentralen Institutionen und Verbänden erste Maßnahmen eingeleitet wurden.
Außer den genannten Gesprächen im Präsidium der Volkspolizei am 26. Oktober 1989 haben Abstimmungen stattgefunden: am 27. Oktober 1989 im Ministerium für Kultur unter Leitung des Genossen Hartmut König35 mit den Rektoren der künstlerischen Hoch- und Fachschulen sowie des Ministers für Kultur, Hoffmann,36 mit den Intendanten aller Berliner Theater. Von den Teilnehmern sei zugesichert worden, Einfluss auf einen friedlichen Verlauf der Demonstration zu nehmen.
Es wird vorgeschlagen:
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Gespräch mit den in verantwortlichen Funktionen im künstlerisch-schriftstellerischen Bereich tätigen Mitgliedern des ZK der SED
Kant, Hermann37 | Schriftstellerverband der DDR
Wekwerth, Manfred | Akademie der Künste der DDR
Görlich, Günter38 | Schriftstellerverband der DDR
Holtz-Baumert, Gerhard39 | Schriftstellerverband der DDR
durch beauftragte Genossen des ZK der SED. Durch die Genannten sollte Einfluss auf die Leitungen ihrer Verbände und Einrichtungen genommen werden, alle Mitglieder zu einem dem Anlass angemessenen Verhalten zu bewegen und sich möglichen Provokationsversuchen verbandsfremder Kräfte entgegenzustellen.
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Gespräch mit dem Präsidenten und den 1. Sekretären der einzelnen Künstlerverbände durch die Leiterin der Abt. Kultur des ZK der SED bzw. von ihr beauftragte Mitarbeiter.
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Insbesondere die Leitung des Verbandes Bildender Künstler sollte Einfluss nehmen, dass die beabsichtigte Anfertigung von mitzuführenden Losungen und Transparenten durch Angehörige dieses Verbandes kontrolliert und damit möglichen Provokationen vorgebeugt wird.
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Durch die Gewerkschaft Kunst sollte nach Konsultation mit dem FDGB-Bundesvorstand Einfluss auf die sich in der Organisationsgruppe für die Demonstration befindlichen Gewerkschaftsvertrauensleute genommen werden, provokatorische Absichten gewerkschaftsfremder Personen zurückzuweisen.
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Erteilung von Auflagen an die Organisatoren der Demonstration durch die Volkspolizei, besonders hinsichtlich der eigenen Verantwortung für die Unterbindung von Provokationen und Gewalt.
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Einsatz gesellschaftlicher Kräfte durch die Bezirksleitung der SED Berlin im Demonstrationszug.
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Gezielter Einsatz der Medien in der Phase der Vorbereitung und Durchführung der Demonstration, um vor allem beruhigend zu wirken.
Seitens des MfS wird auf der Grundlage eines Maßnahmeplanes mit geeigneten Mitteln veranlasst, dass
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militante feindliche Kräfte festgestellt und isoliert werden, die die Demonstration für provokatorische Zwecke missbrauchen wollen,
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positive und vernünftige Kräfte gestärkt werden, um Einfluss auf einen ruhigen Verlauf der Demonstration zu nehmen,
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gesellschaftliche Kräfte in Abstimmung mit der Partei wirkungsvoll zum Einsatz gebracht werden.
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