Geplante Gründung des »Demokratischen Aufbruchs«
26. Oktober 1989
Information Nr. 481/89 über die geplante Gründung der antisozialistischen Sammlungsbewegung »Demokratischer Aufbruch« am 29. Oktober 1989 in Berlin
Nach dem MfS streng intern vorliegenden Hinweisen beabsichtigen die Initiatoren/Organisatoren der antisozialistischen Sammlungsbewegung »Demokratischer Aufbruch«,1 Pfarrer Rainer Eppelmann2 (Berlin) und Pfarrer Edelbert Richter3 (Erfurt), am 29. Oktober 1989, in der Zeit von 11.00 bis 22.00 Uhr, im Evangelischen Diakoniewerk Königin Elisabeth, Berlin-Lichtenberg, Herzbergstraße 79, eine sogenannte Gründungsversammlung zwecks landesweiter Formierung durchzuführen (siehe auch Information des MfS Nr. 471/89 vom 23. Oktober 1989). Als Ausweichobjekt ist die eventuelle Nutzung der Galiläakirche, Berlin-Friedrichshain, Rigaer Straße 9, vorgesehen.4 (Eine bereits am 1. Oktober 1989 beabsichtigt gewesene derartige »Gründungsversammlung« war durch geeignete Maßnahmen des Ministeriums für Staatssicherheit unterbunden worden, jedoch mit Öffentlichkeitswirksamkeit.)
Die Organisatoren rechnen mit einer Teilnehmerzahl bis zu 500 Personen aus allen Bezirken der DDR, darunter zahlreiche kirchliche Amtsträger und in kirchlichen Einrichtungen tätige Personen. (An der Identifizierung der Teilnehmer, die bisher nur teilweise bekannt sind, wird gearbeitet. Einladungen erfolgten ausschließlich in mündlicher Form.)
Auf der sogenannten Gründungsversammlung sollen die zwischenzeitlich als Entwurf vorliegenden Materialien »Aufruf Demokratischer Aufbruch – sozial, ökologisch«, »Programmatische Erklärung« und »Satzung« personelle Vorschläge entsprechend der beabsichtigten Organisationsstruktur sowie Fragen der Zusammenarbeit mit anderen sogenannten demokratischen Initiativen beraten und entsprechende »Beschlüsse« gefasst werden.5
In den als Entwurf vorliegenden »programmatischen Dokumenten« wird zur Zielstellung des »Demokratischen Aufbruchs« ausgesagt, auf der Grundlage der Verfassung der DDR an einer »demokratischen Umgestaltung in der DDR« mitzuarbeiten, »für eine Reform des sozialen und politischen Systems« einzutreten und »zusammen mit anderen Reformkräften in der DDR die legitime Rolle der demokratischen Opposition« übernehmen zu wollen.
Als bedeutsames Ziel wird die Teilnahme an den Volkskammerwahlen in der DDR mit »eigenen Kandidaten« angesehen. Im Fall einer Ablehnung der Aufstellung »eigener Kandidaten« wird ein Aufruf zum Wahlboykott bzw. die Realisierung einer »Gegenwahl« in Erwägung gezogen.
Die beabsichtigte Zusammenkunft ist bisher nicht öffentlich angekündigt.
Es wird vorgeschlagen,
- –
durch den Staatssekretär für Kirchenfragen, Genossen Löffler,6 werden mit Konsistorialpräsident Stolpe7 und durch den Leiter des Sektors Kirchenfragen beim Magistrat von Berlin, Genossen Dr. Mußler,8 mit dem Direktor des Evangelischen Diakoniewerkes Königin Elisabeth, Passauer,9 Gespräche geführt, in denen unter Hinweis auf das Angebot der Partei- und Staatsführung zur Führung eines breiten demokratischen Dialogs mit allen Bürgern und die bereits deutlich sichtbaren Veränderungsprozesse, die staatliche Erwartungshaltung zum Ausdruck gebracht wird, dafür zu sorgen, dass kirchliche Räume für die Formierung nichtzugelassener Vereinigungen nicht zur Verfügung gestellt werden.
- –
für den Fall, dass im Ergebnis der vorgeschlagenen Gespräche mit kirchlichen Amtsträgern kirchlicherseits keine Maßnahmen zur Unterbindung dieser »Gründungsveranstaltung« erfolgen (damit ist angesichts der bekannten Haltung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg zu rechnen), wäre eine Verhinderung der Veranstaltung nur mit polizeilichen Maßnahmen möglich.
Zu beachten ist hierbei, dass zur Absperrung des Geländes des Diakoniewerkes Königin Elisabeth bzw. der als Ausweichobjekt vorgesehenen Galiläakirche umfangreiche Polizeikräfte eingesetzt werden müssten, um den Zutritt zu unterbinden. Die Durchführung entsprechender polizeilicher Maßnahmen wäre im Hinblick auf die übliche tägliche Personenbewegung sofort öffentlichkeitswirksam. Eine Konfrontation mit den damit verbundenen Gefahren der Ausweitung und des Entstehens größerer Personenansammlungen wäre kaum zu vermeiden. Aus diesem Grunde sollten nur Kontroll- und Sicherungsmaßnahmen durchgeführt werden.
Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.
Anlage zur Information Nr. 481/89
[Kopie eines Flugblatts des »Demokratischen Aufbruchs«]
Flugblatt für die Demokratie
Der »Demokratische Aufbruch« (DA) ist ein Teil der politischen Opposition in der DDR. Er tritt für eine sozialistische Gesellschaftsordnung auf demokratischer Basis ein.
Wir fordern die Verwirklichung aller in der Verfassung garantierten und international vereinbarten Menschenrechte.
Dazu gehören:
- –
das Recht auf Reisefreiheit, einschließlich des Rechtes auf Rückkehr ins eigene Land,
- –
das Recht auf freie Wahl des Wohnsitzes,
- –
das Recht auf Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit, einschließlich des Rechtes auf ungehinderte politische Willensbildung in Parteien und Vereinen (außer, wenn damit faschistisches, chauvinistisches und militaristisches Gedankengut propagiert wird),
- –
das Recht auf freie und geheime Wahl zwischen unterschiedlichen Programmen und Personen.
Wir fordern Reformen im Bildungswesen, die eine freie Persönlichkeitsentwicklung ohne ideologische Bevormundung ermöglichen.
Wir fordern Reformen im Strafrecht und im Strafvollzugsrecht, die Rechte des Bürgers gegenüber dem Staat stärken.
Wir fordern politische Reformen, die den bisher praktizierten staatlichen Zentralismus der SED beseitigen. Dazu gehört die Errichtung einer Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit.
Wir fordern eine Wirtschaftspolitik, die die Qualität der Umwelt verbessert, nicht die natürlichen Ressourcen vergeudet und keinen Raubbau betreibt, die die schleichende Inflation bekämpft, die Leistung und Verantwortungsbereitschaft fördert.
Dazu gehören:
- –
Abschaffung von Privilegien und Bevorzugungen für nichterbrachte Leistungen,
- –
Änderung einer restriktiven Steuer- und Zulassungspolitik für Handwerksbetriebe,
- –
Abbau unsinniger Subventionen zugunsten einer gezielten Unterstützung der sozial Schwachen,
- –
eine vordringlich durchzuführende umfassende Rentenreform,
- –
die Unabhängigkeit der Gewerkschaften und Betriebsräte von staatlicher und parteipolitischer Bevormundung,
- –
Einsparung im Militär- und Sicherheitswesen zur Freisetzung materieller und personeller Reserven.
Der demokratische Aufbruch hält die gegenwärtigen vorhandenen politischen Strukturen nicht für ausreichend, den notwendigen Demokratisierungsprozess zu gewährleisten. Darum hat er sich als politische Vereinigung außerhalb der Nationalen Front formiert.10 Seine Mitglieder wehren sich gegen die Unterstellung, die DDR in kapitalistische Verhältnisse zurückreformieren zu wollen. Sie stehen ein für die Umgestaltung untragbarer Zustände, um eine neue Glaubwürdigkeit der Politik herzustellen. Sie stehen ein für eine Umgestaltung untragbarer Zustände, um die zukünftige Existenz der DDR als Friedensfaktor in Europa zu ermöglichen.
Demokratischer Aufbruch