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Geplante Schriftstellerlesungen in West- und Ostberlin

14. August 1989
Information Nr. 382/89 über beabsichtigte Schriftstellerlesungen in der Hauptstadt der DDR, Berlin, sowie in Westberlin in Verantwortung der Akademie der Künste der DDR und der Akademie der Künste in Westberlin

Vorliegenden internen Hinweisen zufolge wird in Verantwortung beider Akademien für die Zeit vom 1. bis 5. November 1989 ein Zyklus gemeinsamer Schriftstellerlesungen unter dem Motto: »Die deutschen Sprachen der Poesie« vorbereitet, wobei die Veranstaltungen jeweils sowohl in der Hauptstadt der DDR, Berlin, als auch in Westberlin durchgeführt werden sollen.

Maßgebliche Inspiratoren dieser Veranstaltungsreihe sind von DDR-Seite der Schriftsteller Hermlin, Stephan1 (sowohl Mitglied der Akademie der Künste der DDR als auch der Akademie der Künste in Westberlin) und von Westberliner Seite des Sekretärs der Abteilung Literatur der Akademie der Künste Westberlin, Kiwus, Karin2 (46, BRD-Bürgerin, Kontaktperson Hermlins in Vorbereitung und Durchführung der von Hermlin initiierten »Berliner Begegnung« im Dezember 1981 in der Hauptstadt der DDR, Berlin, sowie des Folgetreffens 1983 in Westberlin.)3

Unterstützt wird die Kiwus vom Direktor der Abteilung4 Literatur der Akademie der Künste Westberlin, Peter Härtling.5

Nach internen Hinweisen erfolgten Anstöße zu diesem Projekt in unzulässiger Ausweitung des Kulturabkommens DDR – BRD6 durch Vertreter der Akademie der Künste Westberlin. Offensichtlich steht dieses Vorhaben im Zusammenhang mit deren ständigen Aktivitäten, Veranstaltungen mit sogenanntem gesamtdeutschen Charakter durchführen zu wollen.

Konkretere Absprachen dazu habe es während der ersten zentral genehmigten Begegnung zwischen Mitgliedern der Akademie der Künste der DDR und der Akademie der Künste Westberlin im April 1988 zwischen Stephan Hermlin und Karin Kiwus gegeben, trotz Kenntnis Hermlins über entsprechende Festlegungen seitens der DDR, die die Aufnahme offizieller Beziehungen zwischen beiden Akademien und die Durchführung gemeinsamer Vorhaben außerhalb des Kulturabkommens nicht gestatten.

In der Folgezeit führte Stephan Hermlin mehrfach eigenmächtig – wobei er unberechtigt im Namen der Akademie der Künste der DDR sprach – Absprachen mit der Kiwus, in deren Ergebnis das Projekt so weit vorangetrieben wurde, dass Zeitpunkt und Veranstaltungsorte sowie Teilnehmer (von DDR-Seite 25 und von Westberliner Seite 32 Autoren) für die Lesungen benannt wurden. Um den sogenannten gesamtdeutschen Charakter dieses Projektes zu verschleiern, wurden zusätzlich drei schweizerische und sechs österreichische Autoren nominiert.7

Im individuellen Gespräch habe Hermlin zu erkennen gegeben, er leite aus seiner Mitgliedschaft in der Westberliner Akademie der Künste einen gewissen moralischen Zwang zur Vertretung ihrer Interessen auch gegenüber der DDR ab.

Aus dem Umgangskreis von Hermlin wurde eingeschätzt, dass er den »gesamtdeutschen« Ambitionen, die vom ehemaligen Präsidenten der Westberliner Akademie der Künste, Günter Grass,8 dessen Nachfolger Giselher Klebe9 und dem jetzigen Akademiepräsidenten Prof. Walter Jens10 vertreten wurden bzw. werden, sehr aufgeschlossen gegenüberstehe.

Streng intern wurde bekannt, dass Hermlin, nachdem er gemeinsam mit der Kiwus das Projekt entwickelt hatte, vom Präsidenten der Akademie der Künste, Genossen Manfred Wekwerth,11 sowohl bezüglich der Herstellung dauerhafter Beziehungen zwischen beiden Akademien als auch zur Durchführung der genannten Schriftstellerlesungen im November 1989 eine Zusage auf Unterstützung erhielt.

In der Folgezeit wurden ferner der Sekretär der Sektion Literatur und Sprachpflege, Wolfgang Kohlhaase,12 und der Generaldirektor der Akademie der Künste der DDR, Heinz Schnabel,13 in die Vorbereitungen einbezogen.

Bis Mitte Juli 1989 waren die Vorbereitungen der beiden Akademien auf folgendem Stand: Die Entwürfe der Einladungsschreiben für die von Hermlin und Kiwus ausgewählten Autoren liegen unterschriftsreif vor und sollen von Wolfgang Kohlhaase und Peter Härtling unterzeichnet werden; Werbeplakate für die Veranstaltung sind fertiggestellt. Die Westberliner Akademie hat auf einer Pressekonferenz bereits auf die Veranstaltungen hingewiesen. Festlegungen zufolge sollen die Lesungen jeweils um einen Tag versetzt in Räumlichkeiten der beiden Akademien ablaufen (in der Akademie der Künste in der DDR im 450 bis 500 Personen fassenden Konrad-Wolf-Saal), wobei die Eintrittskarten im freien Verkauf vertrieben werden sollen. Den Autoren soll eine Lesung jeweils ca. 15 Minuten nach eigener Textwahl und ohne vorherige Abstimmung mit den Organisatoren eingeräumt werden. Es wird davon ausgegangen, dass alle beteiligten Autoren für den Zeitraum der Veranstaltungen entsprechende Visa zum Aufenthalt in der Hauptstadt der DDR, Berlin, bzw. Westberlin erhalten. Die Finanzierung des Projektes (Honorare, Reisekostenerstattung, Aufenthaltsgeld u. a.) soll aus den Haushalten der beiden Akademien abgedeckt werden.

Eine Liste der vorgesehenen Autoren für die Schriftstellerlesungen wird als Anlage beigefügt. Darunter befinden sich Günter Kunert14 (seit Oktober 1979 mit gültigem Visum der DDR in der BRD; Verfasser eines in Westmedien veröffentlichten Protestbriefes gegen die Maßnahmen der DDR gegenüber Krawczyk;15 1989 Entgegennahme des sogenannten Bundesverdienstkreuzes der BRD), Wolfgang Hilbig16 (1986 mit auf drei Jahre befristetem Visum ausgereist, jetzt ohne gültiges Visum in der BRD; hinlänglich bekannt u. a. durch literarische Arbeiten mit inhaltlich gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung in der DDR gerichteten Aussagen; mehrfach Empfänger hoch dotierter Preise in der BRD) und Sarah Kirsch17 (1976 als Mitglied der SED gestrichen und aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen; seit 1977 in der BRD; 1983 wurde ihrem Ersuchen auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR stattgegeben; in der BRD wiederholt gegen die Politik der DDR aufgetreten).

Hinweisen zufolge wurde das Projekt, nachdem die Vorbereitungen auf den vorher bezeichneten Stand vorangetrieben waren, erstmals am 17. Juli 1989 zentralen Stellen bekannt gegeben. Demnach hätten die Genossen Wekwerth und Schnabel beim Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der SED, Genossen Kurt Hager,18 das Projekt vorgetragen, aber dafür »wegen der Gefahr einer gesamtdeutschen Interpretation« keine Zustimmung erhalten.

Wie streng intern bekannt wurde, seien Hermlin und zum Teil auch Wekwerth deprimiert und ratlos hinsichtlich des weiteren Fortganges des Projektes. Sie wären im engsten Umgangskreis übereingekommen, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um die Veranstaltungen doch noch wie geplant durchführen zu können.

Einem äußerst vertraulichen Hinweis zufolge habe Hermlin die Absicht geäußert, beim Generalsekretär des ZK der SED, Genossen Erich Honecker,19 unmittelbar nach dessen Jahresurlaub vorstellig zu werden, um die Genehmigung für das Vorhaben in einem persönlichen Gespräch zu erwirken.

Die Information ist wegen äußerster Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.

Anlage zur Information Nr. 382/89

Vorgesehene Teilnehmer an den Leseveranstaltungen der Akademien der Künste der DDR und Westberlin vom 1.11. bis 5.11.1989

BRD

Ilse Aichinger,20 Jürgen Becker,21 Friedrich Christian Delius,22 Hans Magnus Enzensberger,23 Gerhard Falkner,24 Ludwig Fels,25 Günter Grass, Peter Härtling, Harald Hartung,26 Rolf Haufs,27 Helmut Heißenbüttel,28 Wolfgang Hilbig,29 Walter Höllerer,30 Yaak Karsunke,31 Sarah Kirsch, Karin Kiwus, Jan Koneffke,32 Ursula Krechel,33 Karl Krolow,34 Michael Krüger,35 Günter Kunert, Christoph Meckel,36 Helga M. Novak,37 Oskar Pastior,38 Anna Rheinsberg,39 Peter Rühmkorf,40 Friederike Roth,41 Ralf Rothmann,42 Luise Schmidt,43 Jürgen Theobaldy,44 Guntram Vesper,45 Michael Wildenhain46

DDR

Volker Braun,47 Hanns Cibulka,48 Heinz Czechowski,49 Günther Deicke,50 Adolf Endler,51 Elke Erb,52 Peter Gosse,53 Peter Hacks,54 Stephan Hermlin, Heinz Kahlau,55 Rainer Kirsch,56 Wulf Kirsten,57 Uwe Kolbe,58 Gisela Kraft,59 Kito Lorenc,60 Steffen Mensching,61 Karl Mickel,62 Bert Papenfuß-Gorek,63 Walther Petri,64 Richard Pietraß,65 Thomas Rosenlöcher,66 Eva Strittmatter,67 Brigitte Struczyk,68 Hans-Eckardt Wenzel,69 Walter Werner70

Schweiz

Felix Philipp Ingold,71 Kurt Marti,72 Hansjörg Schertenleib73

Österreich

Ernst Jandl,74 Alfred Kolleritsch,75 Friederike Mayröcker,76 Robert Schindel,77 Jutta Schutting,78 Peter Waterhouse79

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    14. August 1989
    Information Nr. 383/89 über Vorkommnisse im Zusammenhang mit dem 28. Jahrestag der Errichtung des antifaschistischen Schutzwalls

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    14. August 1989
    Information Nr. 381/89 über erste Reaktionen aus kirchlichen Bereichen auf den Briefwechsel zwischen dem Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Genossen Erich Honecker, und dem Bischof der Evangelischen Landeskirche Greifswald, Gienke