Kirchliche Aktivitäten zum 50. Jahrestag Beginn 2. Weltkrieg
4. September 1989
Information Nr. 400/89 über kirchliche Aktivitäten anlässlich des 50. Jahrestages des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges
Aus Anlass des 50. Jahrestages des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges wurden am 1. September 1989 durch die evangelischen Kirchen in der DDR, teilweise in Zusammenarbeit mit anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften, auf der Ebene der Kirchengemeinden zahlreiche Gedenkveranstaltungen durchgeführt.
Grundlage für deren inhaltliche Gestaltung bildeten generell die durch den Bund der Evangelischen Kirchen (BEK) in der DDR allen Kirchengemeinden übergebenen Materialien »Wort an die Gemeinden«1 – gemeinsam vom BEK und der »Evangelischen Kirche in Deutschland«/BRD verfasst – und »Arbeitshilfe für den Gedenkgottesdienst am 1. September 1989« – herausgegeben durch die »Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin-West e.V.«, die »Kommission für kirchliche Jugendarbeit beim BEK in der DDR« und den »Ökumenischen Jugendrat in der Deutschen Demokratischen Republik«.2 (Über diesbezüglich geplante Aktivitäten und die vorgenannten Materialien wurde in der Information des MfS Nr. 397/89 vom 25. August 1989 informiert.)
Mit dem Ziel der Verhinderung des politischen Missbrauchs derartiger Veranstaltungen und provokatorisch-demonstrativer Handlungen in der Öffentlichkeit wurden rechtzeitig vorbeugend differenzierte staatliche Maßnahmen wirksam. In vielfältigen Gesprächen in Verantwortung des Staatssekretariats für Kirchenfragen und der örtlichen Staatsorgane mit Vertretern kirchenleitender Gremien und kirchlichen Amtsträgern wurde die staatliche Erwartungshaltung übermittelt, auf den religiösen Charakter der vorgesehenen Veranstaltungen Einfluss zu nehmen und keinerlei Aktivitäten zuzulassen, die dem Anliegen dieses Gedenktages widersprechen.
Dieses Vorgehen, insbesondere die rechtzeitige und sachliche Gesprächsführung mit kirchlichen Kräften, hat sich als wirksam erwiesen. Die durchgeführten Gedenkgottesdienste und analoge Veranstaltungen in kirchlichen Räumen trugen bis auf wenige Ausnahmen ausschließlich religiösen Charakter. In den Predigten und Gebeten wurden vorwiegend die im »Wort an die Gemeinden« enthaltenen Grundzüge des Gedenkens an das religiöse Bekenntnis für Frieden, Bewahrung der Schöpfung und Gerechtigkeit zum Ausdruck gebracht, zum Teil verbunden mit einer Würdigung der Friedenspolitik und des antifaschistischen Charakters des sozialistischen deutschen Staates. Aktivitäten außerhalb der Kirchen wie sogenannte Pilgerwege – solche wurden u. a. in der Hauptstadt Berlin und in den Bezirken Dresden, Erfurt, Leipzig durchgeführt – waren wenig öffentlichkeitswirksam. Es kam zu keiner Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit und zu keinen provokatorisch-demonstrativen Handlungen.
Im Ergebnis der staatlichen Einflussnahme wurde zum Teil von geplanten Vorhaben Abstand genommen (u. a. sogenannter Schweigemarsch in Staaken, [Bezirk] Potsdam) bzw. Veranstaltungsteilnehmer distanzierten sich von demonstrativen Aktivitäten. So wurde der zum Abschluss des Gottesdienstes in der Paul-Gerhardt-Gemeinde in Berlin ergangenen Aufforderung, die Kirche mit brennenden Kerzen zu verlassen und diese am Denkmal des gemeinsamen Kampfes polnischer Soldaten und der deutschen Antifaschisten im Volkspark Friedrichshain aufzustellen, nicht Folge geleistet.
Hinlänglich bekannte reaktionäre kirchliche Amtsträger, soweit sie in die Organisation bzw. Durchführung von derartigen Veranstaltungen einbezogen waren, hielten sich bis auf ganz wenige Ausnahmen mit feindlich-negativen Aussagen und Aktivitäten zurück.
Die Beteiligung an den Gedenkveranstaltungen war entsprechend den territorialen Gegebenheiten, dem propagierten Anliegen und der Art und Weise der Durchführung sowohl zahlenmäßig als auch hinsichtlich der personellen Zusammensetzung sehr unterschiedlich. An der Mehrzahl der Gottesdienste nahmen ca. 80 bis 150 Personen teil, einige, u. a. in der Erlöserkirche in Berlin-Lichtenberg, wurden nur von ca. zehn Personen besucht. Einzelne Veranstaltungen waren stärker frequentiert. So nahmen am zentralen ökumenischen Gottesdienst in der Marienkirche in der Hauptstadt Berlin ca. 1 100 Personen teil, an dem im Ergebnis sogenannter Stationsgottesdienste in fünf Kirchen durchgeführten ökumenischen Gottesdienst in der Predigerkirche in Erfurt insgesamt ca. 700 Personen und am »Fürbittgottesdienst« in der Nikolaikirche in Leipzig ca. 500 Personen.
Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen kam es zu folgenden beachtenswerten Aktivitäten reaktionärer kirchlicher Amtsträger bzw. in die Durchführung der Gedenkveranstaltungen zum 50. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges einbezogener weiterer negativer Kräfte:
Während des Gottesdienstes in der Paul-Gerhardt-Kirche in Berlin-Prenzlauer Berg (ca. 80 Teilnehmer) wurde in der »Verkündigung« unterstellt, auch in der DDR gäbe es »Neonazis und Gewaltverherrlicher«, deren Existenz in der Gesellschaft begründet sei. Unter Bezugnahme auf Methoden des faschistischen deutschen Staates (Pressezensur, Unfreiheit, Sicherheitsapparat zur Bespitzelung) wurden Bezüge zur DDR hergestellt.
Im Rahmen einer Fürbitte während des Gottesdienstes in der Bekenntniskirche in Berlin-Treptow (ca. 100 Teilnehmer, darunter 30 Antragsteller auf ständige Ausreise3) wurden Forderungen nach »mehr Freizügigkeit, Offenheit, Mündigkeit und besserer Information« erhoben und nicht genehmigte Druck- und Vervielfältigungserzeugnisse antisozialistischen Inhalts und Charakters angeboten.
Im Verlaufe eines Gemeindeabends zum Thema »Grenzüberschreitung« in der Erlöserkirche in Potsdam (ca. 80 Teilnehmer) wurde ein an den Ministerpräsidenten der VR Polen gerichtetes Schreiben,4 das eine Sympathieerklärung für die »gegenwärtige Demokratisierung« in Polen und den Wunsch nach Wiedereinführung des visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR und der VR Polen beinhaltet,5 verlesen und zur Unterschriftenleistung ausgelegt (nach vorliegenden Hinweisen unterzeichneten fast alle Veranstaltungsteilnehmer). Dieser Brief wurde bei weiteren Veranstaltungen, so in der Friedenskirche in Potsdam, verlesen und es wurde wiederum zur Unterschriftensammlung aufgerufen.
In der Brandenburger St.-Gotthard-Kirche wurden während eines Gottesdienstes (ca. 80 Personen) durch Teilnehmer fünf Plakate negativen Inhalts (u. a. »Wahrheit statt Propaganda«, »Freundschaft statt Parolen«) gezeigt, die zusammengerollt auf dem Weg zum anschließenden Gottesdienst im Brandenburger Dom mitgeführt und dort erneut gezeigt wurden. Mitglieder des Gemeindekirchenrates forderten während der Veranstaltung in der St.-Gotthard-Kirche u. a. die Abschaffung des Wehrunterrichtes6 und die »Durchführung von Veränderungen« in der DDR und behaupteten, dass es in beiden deutschen Staaten Neofaschismus gäbe.
Durch den hinlänglich bekannten Pfarrer Freimark7 (Neustadt-Dosse) wurden am Kirchturm Transparente mit den Texten und Symbolen »Schwerter zu Pflugscharen«, »Frieden schaffen ohne Waffen« sowie »Menschenrechte« angebracht.
Während des Gottesdienstes in der evangelischen Kirche St.-Katharinen in Salzwedel, [Bezirk] Magdeburg, wurden im Rahmen von sogenannten Fürbitten u. a. »Reisefreiheit und Veränderungen in der DDR« gefordert, verbunden mit der Orientierung, statt auszureisen bzw. zu flüchten, in der DDR um Veränderungen zu kämpfen.
In der St.-Georgen-Kirche in Halle wurde ein eineinhalbstündiges »Klagetrommeln« durchgeführt (ca. 25 Teilnehmer).8 Es wurde Kritik an der Haltung der DDR zu den konterrevolutionären Ereignissen in der VR China geübt und die Verschickung eines »Protestschreibens« diesbezüglichen Inhalts an die Volkskammer der DDR angekündigt.
Entsprechend den vorliegenden Hinweisen über den Verlauf der kirchlichen Aktivitäten anlässlich des 50. Jahrestages des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges wird vorgeschlagen,
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zu gegebenem Anlass gegenüber Vertretern kirchenleitender Gremien bzw. kirchenleitenden Kräften eine Würdigung des insgesamt als positiv einzuschätzenden Verlaufs der kirchlichen Gedenkveranstaltungen vorzunehmen und dies als Beispiel vertrauensvoller, konstruktiver Zusammenarbeit zu werten sowie
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in Gesprächen mit zuständigen kirchlichen Amtsträgern jene Aktivitäten und politischen Aussagen zurückzuweisen, die einen politischen Missbrauch der Gedenkveranstaltungen darstellen, verbunden mit entsprechenden Forderungen, künftig noch energischer Einfluss zu nehmen, um derartige Vorkommnisse und Handlungen zu unterbinden.