Lage in den befreundeten Parteien
2. November 1989
Information Nr. 487/89 über einige Aspekte der aktuellen politischen Lage in den befreundeten Parteien
Dem MfS vorliegenden internen Hinweisen zufolge werden die Ergebnisse der 9. Tagung des ZK der SED von den Vorsitzenden und leitenden Funktionären der befreundeten Parteien grundsätzlich begrüßt.1
Übereinstimmend wurde die Auffassung vertreten, dass die inhaltlichen Orientierungen des Genossen Erich Honecker2 während der Zusammenkunft mit den Vorsitzenden der befreundeten Parteien am 13. Oktober 1989 durch die Ereignisse der letzten Wochen überholt und weitestgehend bedeutungslos geworden sind.3
Die Rede des Generalsekretärs des ZK der SED, Genossen Egon Krenz,4 vom 18. Oktober 1989 wird akzeptiert und als Grundlage auch der politischen Arbeit der befreundeten Parteien angesehen.5 Es wird erwartet, dass der in den letzten Wochen zugenommene Druck auf die Parteiführungen durch die Parteibasis jetzt nachlassen könnte, weil in der Erklärung eindeutige Aussagen für die Gestaltung des Dialogs mit allen gesellschaftlichen Kräften mit dem Ziel, anstehende dringende gesellschaftliche Probleme gemeinsam zu lösen, enthalten sind.6
Die bereits am 18. Oktober 1989 stattgefundene Sitzung des Demokratischen Blocks7 wurde von den Teilnehmern der befreundeten Parteien als sehr angenehm empfunden, weil seitens der SED damit deutlich gemacht worden sei, dass sie künftig über wesentliche Entscheidungen mit gesamtgesellschaftlicher Bedeutung wieder unverzüglich die Mitglieder des Demokratischen Blocks informieren wird.8 Damit würden alte, bewährte Traditionen wiederbelebt. Hervorgehoben wurde auch die lockere Atmosphäre des Treffens mit dem Generalsekretär des ZK der SED.9
Streng intern wurde bekannt, dass sich im Zusammenhang mit den Ergebnissen der 9. Tagung des ZK der SED führende Funktionäre der befreundeten Parteien über Verhaltensweisen und Auftreten des Vorsitzenden der LDPD, Prof. Dr. Gerlach,10 in jüngster Zeit äußerten.11 So wird einerseits die Auffassung vertreten, seine vor der ZK-Tagung in der Öffentlichkeit gestellten Forderungen nach politischen Veränderungen in der DDR seien offensichtlich ohne Abstimmung mit der SED erfolgt und haben zu politischer Unruhe in den Parteien geführt,12 wogegen man jetzt ankämpfen müsse.13 Andererseits wird zum Ausdruck gebracht, Prof. Dr. Gerlach habe von den bevorstehenden personellen Veränderungen in der Parteiführung gewusst, nur so sei seine Erklärung im Fernsehen der DDR am 17. Oktober 198914 zu verstehen, wo er betont hätte, dass Veränderungen in der DDR schon morgen oder übermorgen notwendig seien.15 Hierfür spreche auch das auffällige vertraute Verhältnis zwischen Prof. Dr. Gerlach und dem Generalsekretär des ZK der SED während der Sitzung des Demokratischen Blocks am 18. Oktober 1989, insbesondere jedoch die inhaltliche Übereinstimmung von in der Erklärung des Generalsekretärs des ZK der SED erhobenen Forderungen mit den seit längerer Zeit von Prof. Dr. Gerlach betonten politischen Notwendigkeiten.16
Am 17. Oktober 1989 hatte Prof. Dr. Gerlach auf der erweiterten Beratung des Politischen Ausschusses des Zentralvorstandes der LDPD die Erklärung des Politbüros des ZK der SED als einen Schritt in die richtige Richtung charakterisiert, dem schnell viele weitere Schritte folgen müssten. Er hatte auf dieser Beratung nochmals seine bekannten prinzipiellen Positionen deutlich gemacht, die seiner Meinung nach auch nach der 9. Tagung des ZK der SED volle Gültigkeit behielten. Prof. Dr. Gerlach fühlt sich in seiner Politik bestätigt, brachte zum Ausdruck, dass jetzt die Voraussetzungen für eine gute Zusammenarbeit mit der SED bestünden, forderte in diesem Zusammenhang aber auch die Offenlegung der Ursachen für die gegenwärtige Situation in der DDR, denn man könne sich nicht nur mit der Zukunft beschäftigen. In der DDR habe es zweifellos eine Stagnation, eine Zeit der Führungs- und Sprachlosigkeit gegeben. Das bisherige Fehlverhalten der Parteiführung wäre immer weiter eskaliert, es habe einen Vertrauens- und Autoritätsschwund in der Bevölkerung gegeben, sodass die DDR jetzt am Rande unkontrollierbarer Entwicklungen stünde. In dieser Situation dürfe keinesfalls bis zum XII. Parteitag der SED mit grundlegenden Entscheidungen gewartet werden.17 Es bestünde das dringende Erfordernis, weitere Zusammenkünfte mit den Vorsitzenden der Blockparteien durchzuführen, um alle von der SED geplanten Vorhaben gemeinsam zu beraten.
Da die Gefahr bestünde, dass unter neuen Formen nur eine alte Politik getarnt werde, müsste die LDPD alles tun, was zur Sicherheit der DDR beitrüge.18
Nach Auffassung Prof. Dr. Gerlachs, und da wisse er sich einig mit der Mitgliedschaft der LDPD, könne eine neue Politik nur mit neuen Leuten gemacht werden. Nicht der Sozialismus stehe zur Disposition, sondern die bisherige Regierungspolitik.19 Es seien gesellschaftliche Strukturen entstanden, die das Leben in der DDR erstickten. Kühne Vorschläge mit großer Spannweite und Tiefe seien erforderlich. Gerade hier sei die LDPD gefordert und müsse dabei das gewonnene Vertrauenskapital ihrer Mitglieder nutzen. Es sei an der Zeit, den Dialog mit allen gesellschaftlichen Kräften zu führen und Kontakte lediglich zu solchen Kräften abzulehnen, die staatsfeindlich auftreten. Dies träfe jedoch nicht für das »Neue Forum«20 zu, da 50 % dessen Forderungen auch von der LDPD unterschrieben werden könnten.
Auch unter dem Aspekt des großen Zulaufes zum »Neuen Forum« und der Wahrscheinlichkeit, dass es staatlicherseits genehmigt wird, sei der Dialog mit dieser Bewegung unbedingt notwendig. Es gebe aber bisher keine Gespräche über eine Zusammenarbeit mit dem »Neuen Forum«, weil es nicht Mitglied der Nationalen Front21 sei. Deshalb käme es jetzt darauf an, sich im Demokratischen Block zu verständigen, wer mit wem spricht. Dies sei eine der ersten Fragen, die in einer der nächsten Sitzungen des Demokratischen Blocks beraten werden müsste.
Bezogen auf die aktuelle politische Lage in der CDU wurde streng intern bekannt, dass es massive Bestrebungen von Mitgliedern und Funktionären der Partei auf allen Ebenen gibt, den Parteivorsitzenden Götting22 von seiner Funktion abzulösen. Es besteht die Auffassung, dass Götting nicht in der Lage sei, sich den veränderten Bedingungen anzupassen. Ihm würden die erforderlichen wissenschaftlich-theoretischen und organisatorischen Fähigkeiten für die jetzt notwendige neue Qualität der Führungstätigkeit fehlen; er leiste Widerstand gegen alle Reformbestrebungen in der Partei23 (siehe auch die Information des MfS Nr. 483/89 vom 26. Oktober 1989 über einige aktuell beachtenswerte Aspekte zur Lage in der CDU).
Beachtenswert ist, dass es nach wie vor Aktivitäten insbesondere von Funktionären aus Bezirks- und Kreisorganisationen der CDU gibt, noch vor dem XII. Parteitag der SED bis spätestens März 1990 einen Sonderparteitag der CDU einzuberufen. Auf diesem soll der Rahmen für eine tatsächlich eigenständige Politik der CDU im Zusammenwirken mit den anderen Parteien im Demokratischen Block abgesteckt werden.
Streng internen Einzelinformationen zufolge wird von Einzelnen der genannten Funktionäre angestrebt, in Umsetzung einer zu beschließenden neuen Strategie der Partei das kritische Potenzial der evangelischen Kirche in die CDU einzubringen und durch sie zu nutzen. Von diesen Kräften gibt es auch Überlegungen, das Potenzial des »Neuen Forums« durch einen breiten gesellschaftlichen Dialog für die Politik der CDU zu erschließen.
In diesem Zusammenhang ist beachtenswert, dass unter Mitgliedern der CDU – ebenso auch der LDPD – in breitem Umfang eine Identifizierung mit den Zielen und Forderungen des »Neuen Forums« erfolgt.
Es liegen zahlreiche Hinweise vor, wonach Mitglieder und Funktionäre an der Basis in einem Zusammengehen mit dem »Neuen Forum« Möglichkeiten sehen, sich gegenüber der SED stärker zu profilieren, die von ihnen angestrebte Eigenständigkeit nachhaltig zur Geltung zu bringen.
Der Vorsitzende der NDPD, Prof. Dr. Homann,24 brachte im Ergebnis der 9. Tagung des ZK der SED zum Ausdruck, er sehe unter den gegebenen Bedingungen reale Chancen, im Konsens mit den Vorsitzenden der anderen Parteien die Zusammenarbeit im Demokratischen Block durch25 inhaltliche Belebung und konstruktive Beratung bedeutender Entscheidungen zu forcieren. Intern wurde bekannt, dass der Einfluss der Persönlichkeit Prof. Dr. Homanns gegenüber den Mitgliedern des Hauptausschusses nach wie vor vorhanden ist, sich jedoch innerhalb der Parteiführung erste Auswirkungen des von der Parteibasis ausgehenden Druckes zur weiteren Profilierung der Parteipolitik zeigen. So trat z. B. der Direktor der Parteischule der NDPD, Lonscher,26 auf der Sitzung des Präsidiums der NDPD am 17. Oktober 1989 kritisch gegen den vom stellvertretenden Parteivorsitzenden Hartmann27 erarbeiteten Bericht über die politische Lage in der Partei auf. Er zweifelte die gegebene Lageeinschätzung an und brachte zum Ausdruck, es gebe unter Mitgliedern der NDPD zunehmend Zweifel an der führenden Rolle der SED und auch der Führungsfähigkeit der gegenwärtigen Parteiführung der NDPD, die zu gesellschaftspolitischen Fragen kaum Stellung beziehe. Diese Aussagen Lonschers, die er mit entsprechenden Auffassungen von Lehrgangsteilnehmern an der Parteischule untermauerte, blieben während der Präsidiumssitzung unwidersprochen.
Internen Hinweisen zufolge werden seit geraumer Zeit seitens der Parteibasis zunehmend Schreiben an die Parteiführung mit Fragen, Vorschlägen und Erwartungen zur Gestaltung der Parteipolitik gerichtet. Darin enthaltene Forderungen zielen insbesondere auf eine bessere Führungstätigkeit, vor allem durch den Hauptausschuss, sowie eine deutlichere Sichtbarmachung der Wirksamkeit der NDPD als Blockpartei in der Öffentlichkeit. Hier einzuordnen sind auch kritische Stimmen, die von einer politischen Sprachlosigkeit der Parteiführung der NDPD sprechen und in diesem Zusammenhang Forderungen nach Rücktritt Prof. Dr. Homanns von der Funktion des Parteivorsitzenden stellen.
Ausdruck der Unzufriedenheit von Teilen der Mitgliedschaft mit der Politik der Partei sind zahlreiche Austritte aus der NDPD (allein im Oktober 1989 – 300 Mitglieder).28
Im Ergebnis der 9. Tagung des ZK der SED wird der Parteivorstand der DBD durch Meinungsäußerungen und Forderungen aus der Parteibasis zunehmend aufgefordert, konkret und offensiv zu gesellschaftlichen Problemen Stellung zu nehmen und entsprechend der spezifischen Verantwortung der DBD Lösungsvorschläge zu unterbreiten.
Die sich verändernde politische Lage in der DBD fand ihren sichtbaren Ausdruck auch in der Fraktionssitzung der Partei im Zusammenhang mit der X. Tagung der Volkskammer der DDR,29 in der nach vorliegenden internen Informationen kontroverse Diskussionen in einer hektischen Atmosphäre über den Wahlvorschlag der SED geführt wurden.
Gegenwärtig zeigt sich, dass die bisherigen Appelle der Parteiführung der DBD zu immer besserer Arbeit ihrer Mitglieder in der Landwirtschaft als nicht ausreichend betrachtet werden.
Es wird auch kritisch bewertet, dass die Parteiführung ihre Verantwortung für die entstandene gesellschaftliche Situation bisher ungenügend ausgedrückt hat, ohne jedoch personelle Veränderungen zu fordern. Nach vorliegenden internen Hinweisen ist der Prozess der Bestimmung der eigenen Position in der DBD-Führung noch nicht abgeschlossen.
Die Erwartungshaltungen vieler Mitglieder der DBD zur aktiven Mitgestaltung gesellschaftlicher Prozesse umfassen auch eine stärkere Präsenz ihrer Partei in staatlichen Führungsfunktionen auf allen Ebenen der Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft. Es besteht die Auffassung, dass die SED hier in überzogener Weise die entscheidenden Positionen besetzt habe.
Hier einzuordnen sind auch vereinzelte Forderungen nach Besetzung des Postens des Ministers für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft durch ein DBD-Mitglied.
Positiv bewertet wurde von der Parteibasis der Vorschlag der DBD, in der Volkskammer einen Ausschuss für Umweltschutz zu bilden. Derartige konkrete Vorschläge stärken das politische Selbstbewusstsein der DBD-Mitglieder, mit eigenständigen Beiträgen gesellschaftliche Veränderungen mitzugestalten.
In der Diskussion an der Parteibasis der DBD nehmen ferner die Probleme des täglichen Ringens um die Erreichung der Produktionsziele in der Land- und Forstwirtschaft einen breiten Raum ein. Vorherrschend sind dabei kritische Wertungen über die Produktionsbedingungen, insbesondere Qualität und Zustand der Gebäude und Anlagen sowie der Technik. Wesentlich bestimmt wird die Diskussion durch die sich auch in der Landwirtschaft als echtes Hemmnis erweisende mangelhafte Ersatzteilversorgung. Dabei nehmen die Auffassungen zu, wonach die Arbeiterklasse ihren Bündnisbeitrag gegenüber der Klasse der Genossenschaftsbauern ungenügend erfüllt.
Die SED müsste nach Auffassung von DBD-Mitgliedern in Wahrnehmung ihrer führenden Rolle in der Gesellschaft für eine planmäßige proportionale Entwicklung der Volkswirtschaft Sorge tragen und Disproportionen nicht zulassen, die zu Störungen des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses führen.
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