Lage Kunst/Kultur
16. Oktober 1989
Information über beachtenswerte Aspekte der aktuellen Lage im Bereich Kunst/Kultur [Bericht K 3/111]
Dem MfS vorliegenden Hinweisen zufolge nehmen unter Kunst- und Kulturschaffenden sowie Medienmitarbeitern Diskussionen zur Politik der Partei, zur Erklärung des Politbüros des ZK der SED vom 12.10.19891 sowie zu künftig zu lösenden Aufgaben großen Raum ein, wobei die Diskussionen größtenteils kontrovers verlaufen.
Während im Medienbereich konstruktive, von der Sorge um die Weiterentwicklung des Sozialismus in der DDR getragene Gedanken und Meinungen überwiegen, sind Auftreten und Verhaltensweisen von breiten Kreisen der Künstler und Kulturschaffenden zunehmend von Destruktivität sowie von Angriffen gegen die Partei, die Lage in der Republik und – besonders auf die letzten Tage bezogen – gegen die Schutz- und Sicherheitsorgane gekennzeichnet.
In den letzten Tagen verstärken sich Hinweise darüber, dass feindliche, oppositionelle und andere negative Kräfte im Bereich Kunst/Kultur massive Versuche unternehmen, Ansätze zu einer sachlichen, von politischer Verantwortung getragenen Diskussion über die nächsten Aufgaben durch die Entfachung von Hysterie über die Maßnahmen der Schutz- und Sicherheitsorgane am 7.10. und 8.10.1989 im Keime zu ersticken.2
Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang Versuche von Künstlern und Kulturschaffenden, programmatische Forderungen zu erheben, die die Existenz der sozialistischen Gesellschaft der DDR in Frage stellen.
Dazu im Einzelnen: Am 15. Oktober 1989 fand in der Zeit von 11.00 Uhr bis 14.30 Uhr auf Einladung der Gewerkschaftsgruppen der Berliner Theater und des Zentralvorstandes der Gewerkschaft Kunst eine Zusammenkunft von Kunst- und Kulturschaffenden im Deutschen Theater statt. Anwesend waren ca. 800 Personen, unter ihnen der stellvertretende Minister für Kultur, Genosse Siegfried Böttger,3 der Vorsitzende des Verbandes der Theaterschaffenden der DDR und Mitglied des ZK der SED, Genosse Hans-Peter Minetti,4 und der Vorsitzende des Zentralvorstandes der Gewerkschaft Kunst, Genosse Herbert Bischoff.5
Bereits vor dieser Zusammenkunft war deutlich geworden, dass oppositionelle Kräfte unter Schauspielern des Deutschen Theaters (Mühe, Ulrich;6 Neumann, Thomas7) versucht hatten, durch die Vorbereitung einer Protestresolution dieser Veranstaltung den Charakter eines »Tribunals« gegen die Maßnahmen der Schutz- und Sicherheitsorgane am 7. und 8.10.1989 zu geben.8
Die Schauspieler Schall, Johanna,9 und Neumann, Thomas, Leiter der Diskussion, erklärten zum Ziel der Versammlung, sich gegenseitig zu informieren und sich zu artikulieren, damit sie – die Theaterschaffenden – nicht nur zu »Stichwortgebern« in der nun beginnenden Diskussion genutzt würden. In der darauffolgenden Diskussion sprachen 19 Teilnehmer, die sich bis auf den Beitrag des Genossen Hans-Peter Minetti gegen den gegenwärtigen Kurs der Politik von Partei und Regierung aussprachen. (Genosse Minetti, der die Politik des Theaterverbandes verteidigte, wurde von den Anwesenden zum Teil ausgepfiffen.)
Die Teilnehmer dieser Zusammenkunft nahmen eine von Hamburger, Maik10 (Dramaturg am Deutschen Theater) vorgetragene Resolution an, in der eine öffentliche Untersuchung der angeblichen Übergriffe der Volkspolizei und des MfS am 7. und 8.10.1989 gefordert wird. Diese Resolution wurde auch vom stellvertretenden Kulturminister, Böttger, Siegfried, unter zustimmendem Beifall unterzeichnet (der Wortlaut der Resolution wurde im ADN vom 15.10.1989 veröffentlicht).
Im weiteren Verlauf der Zusammenkunft wurden – wie auch im ADN vom 15.10.1989 veröffentlicht – von Teilnehmern Resolutionen ihrer Ensembles verlesen und zur Teilnahme aufgefordert
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zu »friedlichen Demonstrationen« am 4.11.1989 in Berlin11 (von der Mollstraße zum Schauspielhaus) und anderen Städten der DDR gegen die derzeit praktizierte Medienpolitik der DDR und für Pressefreiheit,
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zu einer großen »Matinee« aller Berliner Theater am 21.12.1989 – dem Geburtstag Stalins – zur öffentlichen und im Fernsehen der DDR als Direktübertragung ausgestrahlten »Erörterung« der aktuellen politischen Situation in der DDR.
In diesem Zusammenhang wurde darauf hingewiesen, dass Rechtsanwalt Gysi12 mit weiteren Rechtsanwälten an einer Reformierung des Strafgesetzbuches arbeite.
Weiteren Hinweisen zufolge wurde auch auf einer außerordentlichen Tagung des Bezirksvorstandes Berlin des Verbandes Bildender Künstler eine »Protestresolution« gegen die Maßnahmen der Schutz- und Sicherheitsorgane,13 maßgeblich initiiert durch Prof. Raum, Hermann,14 SED, Mitglied des Präsidiums des VBK, verabschiedet, in der u. a. eine öffentliche Rechenschaftslegung durch diese Organe gefordert wird.
Wie im Verband Bildender Künstler spielten auch auf der Präsidiumssitzung des Schriftstellerverbandes der DDR am 12.10.1989 »Proteste« gegen angebliche Repressalien dieser Organe eine bedeutsame Rolle. In einer Erklärung des Verbandspräsidiums wird u. a. zum Ausdruck gebracht, dass »besorgte Haltungen und Äußerungen nicht unterdrückt und kriminalisiert werden dürfen«.15
Weiteren Hinweisen zufolge werden von bestimmten Kräften des Berliner Schriftstellerverbandes unter maßgeblicher Führung des Herzberg, Wolfgang,16 konzeptionelle Gedanken – wie es heißt der »Pressekommission des Berliner Schriftstellerverbandes« – zur Veränderung der gesellschaftlichen und Machtstrukturen konzipiert. Es wurden erste Thesen für einen Programmentwurf, der als Antrag an das nächste ZK-Plenum und an den XII. Parteitag der SED17 weitergeleitet werden soll, erarbeitet (»Thesen für eine Reform der Massenmedien der DDR«). (Wörtliche Passagen aus dem Entwurf dieser Thesen werden als Anlage 1 beigefügt.)
Es ist vorgesehen, diese Thesen zunächst innerhalb des Vorstandes des Berliner Bezirksschriftstellerverbandes zur Diskussion zu stellen.
Am 15.10.1989 fand in der Zeit von 18.00 bis ca. 21.30 Uhr in der Erlöserkirche in der Hauptstadt der DDR, Berlin, eine Veranstaltung unter dem Thema: »Konzert gegen Gewalt und für die gequälten, geschundenen Verfolgten« unter Teilnahme von ca. 2 000 Personen,18 vorwiegend Jugendliche und Jungerwachsene, unter Leitung von Marianne Birthler19 (Stadtjugendpfarramt Berlin) statt. Ziel der Veranstaltung war die Solidarisierung mit den am 7. und 8.10.1989 »rechtswidrig« durch die Sicherheitsorgane zugeführten Personen.
Anwesende Rockgruppen und Liedermacher trugen Titel ihres Repertoires vor, wobei insbesondere von den Liedermachern Bezüge auf das Veranstaltungsmotto hergestellt wurden. Zwischen den einzelnen musikalischen Darbietungen wurden Texte und Resolutionen verlesen sowie auf weitere Veranstaltungen hingewiesen.
An dieser Veranstaltung waren die Liedermacher Kurt Demmler,20 Jörg Runge,21 Arno Schmidt,22 Thomas Kremer,23 Jürgen Eger,24 Angelika Weiz,25 Toni Krahl26 (von der Gruppe »City«), Bernd Römer27 (Gitarrist der Gruppe »Karat«), Ralf Schmidt28 (»IC«), Mitglieder der Gruppen »Pankow«, »Norbert Bischoff«, »Die Wilderer« sowie die Gruppen »Silly«, »Die Zöllner«, »Liederfirma Tietze«, »Bio« beteiligt.
Moderiert wurde das Programm von Gina Pietsch29 und Dietmar Halbhuber30 (Liedermacher).
Durch die Pietsch wurde ein sogenanntes Protokoll über die »Zuführung« des Liedermachers Jörg Runge vorgetragen. Darin wurde »das unmenschliche Vorgehen« der Sicherheitsorgane am 7.10.1989 »angeprangert«.
Die Pietsch informiert die Teilnehmer, dass der Liedermacher Gerhard Schöne31 nicht an der Veranstaltung teilnimmt, da er sich auf einer Tournee befindet, aber von seinen am 7.10.1989 erhaltenen Nationalpreis 10 000 M für die Kirche in Gotha und 10 000 Mark für die heutige Veranstaltung in der Erlöserkirche gespendet habe. Darüber hinaus forderte sie die Anwesenden auf, beim Verlassen der Kirche für die Inhaftierten Geld zu spenden.
Im Verlauf der Veranstaltung wurden Resolutionen, die in der Humboldt-Universität Berlin32 und im Deutschen Theater33 angenommen wurden und in denen eine öffentliche Untersuchung der Ereignisse am 7. und 8.10.1989, eine öffentliche Stellungnahme des Ministers des Innern und des Ministers für Staatssicherheit sowie Pressefreiheit gefordert werden, unter Beifall verlesen.
Eine Lehrerin der 22. POS Berlin-Hellersdorf und andere Teilnehmer forderten zu radikalen Veränderungen des Bildungssystems in der DDR auf und nannten: Entideologisierung der Schulen, Trennung der politischen Arbeit von der pädagogischen Tätigkeit, Dialog zwischen Lehrern, Eltern und Ministerium für Volksbildung, Gründung einer Interessengemeinschaft der Lehrer.
Der Teilnehmer Dieter Krebs,34 der sich als Abgeordneter der Stadtbezirksversammlung Berlin-Prenzlauer Berg vorstellte, forderte unter Hinweis auf den in der DDR praktizierten »Wahlbetrug«35 einen Dialog zwischen allen Mitgliedern der Gesellschaft, einschließlich der Parteien, Massenorganisationen und der Mitglieder der SED, sowie die Ausarbeitung eines neuen Wahlgesetzes.
Ein weiterer namentlich bekannter Teilnehmer rief zur Überprüfung von Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit auf.
Ein anderer Teilnehmer kündigte die Gründung eines autonomen Studentenbundes an (17.10.1989, 10.00 Uhr, im Innenhof der Humboldt-Universität Berlin.)36
Durch die Birthler wurden die Teilnehmer auf folgende Veranstaltungen hingewiesen:
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16.10.1989, 18.00 Uhr, Fürbittgottesdienst für die Inhaftierten in der Gethsemanekirche Berlin,
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16.10.1989, 19.00 Uhr, Fürbittgottesdienst für die Inhaftierten in der Erlöserkirche Berlin.
Gleichzeitig forderte sie zur Unterschriftsleistung unter einen am Eingang der Kirche ausgelegten »offenen Brief« an den Oberbürgermeister der Hauptstadt der DDR, Berlin, auf, wovon viele Personen Gebrauch machten. Darin wird eine öffentliche Untersuchung der Vorkommnisse am 7. und 8. 10.1989 gefordert (der Wortlaut des »offenen Briefes« wird als Anlage 2 beigefügt).
Anlage 1 zum Bericht K 3/111
Aus den »Thesen für eine Reform der Massenmedien der DDR« von bestimmten Kräften des Berliner Schriftstellerverbandes
Die Verfasser untergliedern ihr Pamphlet in folgende Unterpunkte:
- 1.
Zur Kritik der Massenmedien
- 2.
Welche Thesen müssen permanent diskutiert werden
- 3.
Welche organisatorischen Veränderungen der Massenmedien sind notwendig
- 4.
Wie kann die Qualität des Zeitungs-, Funk- und Fernsehjournalismus erhöht werden.
Die angestrebte politische Zielstellung soll an nachgenannten konzeptionellen Vorstellungen der Pressekommission verdeutlicht werden:
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Wie können und müssen die beiden deutschen Staaten im Herzen Europas sich so weit wie möglich annähern, ohne die jeweilig andere Gesellschaftsordnung eliminieren zu wollen?
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Welche Gesellschaftskonzeption benötigt die DDR bis zum Jahre 2000, um einen modernen, attraktiven, alternativen Sozialismus mit allen Bevölkerungsschichten zu gestalten? Ist hier eine grundsätzliche Kurskorrektur nötig?
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Wie könnte ein Stufenplan zur Reform des DDR-Sozialismus aussehen. In welcher Reihenfolge müssen die Reformen und in welcher Art und Weise, mit welchen Konzeptionen erfolgen?
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Wie muss die Staats- und Rechtsordnung umgestaltet werden?
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Brauchen wir unter Umständen wirklich neue Parteien und Organisationen?
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Wie viel Planwirtschaft brauchen wir, um sozialistische, gesamtgesellschaftliche Steuerung durchzusetzen, wie viel Marktwirtschaft und Kooperation mit dem Westen?
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Wie müssen und können alle kulturellen und künstlerischen Institutionen reformiert werden, um sie autonomer, selbstverantwortlicher und damit schöpferischer zu machen?
Die Kommission betrachtet folgende organisatorische Veränderungen der Massenmedien für notwendig:
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Rundfunk- und Fernsehanstalten sind in Körperschaften öffentlichen Rechts umzuwandeln, um sie von Staat und Partei unabhängiger zu machen.
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Es sind Rundfunk- und Fernsehbeiräte zu gründen, die sich aus Vertretern aller relevanten gesellschaftlichen Gruppen zusammensetzen, einschließlich neuer Gruppierungen.
Es müssen auch private Funk-, Schallplatten-, Fernsehstudios und Videoproduktionen möglich werden.
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Die Ausbildung der Journalisten ist entscheidend zu verbessern. Dabei ist mit westlichen Medien kritisch zu kooperieren.
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Es ist in den großen Rundfunk- und Fernsehanstalten zu sichern, dass die Journalisten unabhängiger, ohne Zensur arbeiten können.
Anlage 2 zum Bericht K 3/111
[Abschrift eines offenen Briefs des »Demokratischen Aufbruchs«]
An den | Berliner Oberbürgermeister Krack37 | Rotes Rathaus | Jüdenstraße 1–9 Berlin 1026
Berlin, den 15. Oktober 1989
Offener Brief
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Krack,
in diesen Oktobertagen kam es in Berlin zu massiven Verletzungen der Bürgerrechte.
Hunderte von Bürgern haben sich in Arbeitskollektiven und Bekanntenkreisen darüber beschwert, wie sie oft länger als vierundzwanzig Stunden festgehalten, gedemütigt und misshandelt wurden.
Aufgrund zahlreicher Anfragen von Demonstranten und Zuschauern, die polizeiliche Gewalt erfahren haben, fordern wir die Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission zur Aufklärung von in diesem Zusammenhang aufgetretenen Rechtsverletzungen. Diese Untersuchungskommission sollte unseres Erachtens folgende Zusammensetzung haben:
Vertreter von Bürgerinitiativen zur demokratischen Erneuerung, Rechtsanwälte, Vertreter des Generalstaatsanwaltes und des Bezirksgerichtes Berlin, der Bezirksbehörde der Volkspolizei und des Magistrats.
Nach Bedarf müssten weitere Institutionen hinzugezogen werden. Die Ergebnisse der Untersuchungen müssen veröffentlicht werden.
Ziel der Kommission muss es sein, die rechtswidrigen Übergriffe festzustellen und zu verhindern, dass sich künftig Ähnliches wiederholen kann.
Das Vertrauensverhältnis von Bürgern und staatlichen Organen soll wieder hergestellt werden.
Gewalt und Einschüchterung sind keine geeignete Voraussetzung für den jetzt von allen Seiten geforderten demokratischen Dialog.
Für die Berliner Initiativgruppe | des »Demokratischen Aufbruchs«38
gez. Axel Grote,39 [Straße, Nr.], Berlin 1055
gez. Ehrhart Neubert,40 [Straße, Nr.], Berlin 1054
gez. Rudi Pahnke,41 [Straße, Nr.], Borgsdorf 1404
gez. Paul Werner Wagner,42 [Straße, Nr.], Berlin 1034
gez. Thomas Welz,43 [Straße, Nr.], Berlin 1035
gez. Christiane Ziller,44 [Straße, Nr.], Berlin 1058
gez. Rainer Eppelmann,45 [Straße, Nr.], Berlin 1035