Meinungen zur Nationalen Gesundheitskonferenz des ZK
4. September 1989
Information Nr. 399/89 über einige beachtenswerte Meinungen, Reaktionen und Erwartungen von Ärzten und anderen Beschäftigten des Gesundheitswesens der DDR zur Nationalen Gesundheitskonferenz des ZK der SED, des Ministerrates der DDR und des Bundesvorstandes des FDGB vom 27. bis 29. September 1989 in Berlin
Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen stimmt die überwiegende Mehrzahl der Ärzte und der anderen Beschäftigten des Gesundheitswesens der DDR der Politik unserer Partei und dem damit verfolgten humanistischen Grundanliegen zu, alles für das Wohl des Volkes zu tun. Gewürdigt wird dabei insbesondere die Friedens- und Abrüstungspolitik der DDR.
Sie bringen diese Einstellung und die Verbundenheit mit dem sozialistischen Staat täglich durch ihre verantwortungsbewusste Arbeit zum Ausdruck und sichern teilweise auch unter komplizierten Bedingungen eine gute medizinische Betreuung der Bürger der DDR. Sie zeigt sich auch in den positiven Meinungsäußerungen vieler Mediziner, vor allem leitender Ärzte, zu Anliegen und Zielstellung der Nationalen Gesundheitskonferenz.
Es gibt jedoch auch differenzierte Meinungen zur Durchführung der Nationalen Gesundheitskonferenz, weshalb es – im Interesse der Gesamtbeurteilung der Lage in medizinischen Einrichtungen – für erforderlich gehalten wird, auch folgende intern bzw. offiziell bekannt gewordene Meinungen, Reaktionen und Erwartungen von Ärzten und anderen Beschäftigten des Gesundheitswesens zur Kenntnis zu bringen.
In Meinungsäußerungen werden solche Erwartungshaltungen deutlich, dass die Nationale Gesundheitskonferenz wirksame Maßnahmen beschließt und auch konkrete Anregungen für staats- und wirtschaftsleitende Organe vermittelt, noch bessere Voraussetzungen und Bedingungen für die stärkere Durchsetzung einer gesunden Lebensweise zu schaffen.
Durch Ärzte wird in diesem Zusammenhang geäußert, dass die Konferenz sich nicht in »Gesundheitsappellen« an die Bevölkerung, wie gesund zu leben, Sport zu treiben, nicht zu rauchen usw., erschöpfen darf. Das wäre eine unzulässig einseitige Betrachtungsweise, weil vor allem die materiellen und anderen Rahmenbedingungen für eine gesunde Lebensweise von entscheidender Bedeutung seien.
Von einigen Medizinern wird dabei auch die Frage aufgeworfen, ob es überhaupt zweckmäßig sei, zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine solche Konferenz durchzuführen, die die Erwartungen nach wirksamen Beschlüssen wegen der gesamtwirtschaftlichen Lage in der DDR doch nicht erfüllen könnte.
Nach weiter vorliegenden Hinweisen werden über die Nationale Gesundheitskonferenz und deren Anliegen vor allem auf der Ebene leitender Ärzte Meinungen geäußert, während Mediziner und andere Beschäftigte des Gesundheitswesens in den Gesundheitseinrichtungen der Bezirke und Kreise in der Mehrzahl lediglich den Fakt der Einberufung der Nationalen Gesundheitskonferenz zur Kenntnis nahmen.
Als Ursache für das Ausbleiben einer breiten Diskussion über die Konferenz und deren Zielstellung wird von leitenden Ärzten vor allem die Tatsache angesehen, dass auf eine breitere Veröffentlichung des Beratungsmaterials »Orientierungen zur weiteren Entwicklung des Gesundheitsschutzes in der DDR«1 verzichtet und das Material nur in 5 000 Exemplaren im Gesundheitswesen und anderen gesellschaftlichen Bereichen verbreitet wurde, was bei einer Beschäftigtenzahl von über 500 000 Mitarbeitern im Gesundheitswesen, darunter über 50 000 Ärzte und Zahnärzte, als völlig unzureichend angesehen wird.
Soweit die zahlenmäßige Zusammensetzung der Teilnehmer an der Nationalen Gesundheitskonferenz bekannt wurde, gibt es unter Ärzten auch darüber Äußerungen, die ein bestimmtes Missverständnis über diese Festlegung beinhalten. Insbesondere aus der Zusammensetzung der Teilnehmer – 50 % sind bekanntlich aus nicht-medizinischen Bereichen vorgesehen – wird geschlussfolgert, dass es auf der Konferenz nur um eine Darstellung der positiven Bilanz der Entwicklung des Gesundheitswesens der DDR anlässlich des 40. Jahrestages der Gründung der DDR gehe und die wirklichen Probleme in diesem Bereich, die zzt. vorrangige Diskussionsschwerpunkte in den Gesundheitseinrichtungen bilden, nicht beraten werden.
Nach den vorliegenden Hinweisen sind das insbesondere Probleme der arbeitsmäßigen Belastungen, die sich aus der Unterbesetzung der Planstellen bei mittlerem medizinischen Personal, vor allem im Pflegebereich und auch teilweise durch das Fehlen von Ärzten (verursacht auch durch das legale oder ungesetzliche Verlassen der DDR), sowie aus der materiell-technischen Versorgung des Gesundheitswesens ergeben.
So habe z. B. im Bezirk Karl-Marx-Stadt das Bezirkskrankenhaus Zwickau aus Mangel an Fachkräften sechs Stationen schließen müssen. Allein durch den Verlust von zwei Fachärzten für Neurologie/Psychiatrie hätten die Betreuungsleistungen in der Nervenklinik um ca. 50 % reduziert werden müssen. Die gleiche Situation wäre auch in der Hautklinik zu verzeichnen.
Generell und im zunehmenden Maße mache sich der akute Mangel an Krankenschwestern und anderen Pflegekräften besonders im stationären Bereich bemerkbar.
Im Bezirkskrankenhaus Zwickau würden zzt. 170 Krankenschwestern fehlen (50 Stationen würden deshalb nur unzureichend mit Krankenschwestern besetzt sein) und im Kreiskrankenhaus Auerbach des Bezirkes Karl-Marx-Stadt seien die Planstellen für 122 Arbeitskräfte nicht besetzt.
(Ähnliche Beispiele sind auch aus anderen Bezirken bekannt.) Gegenstand negativer Meinungsäußerungen in den Gesundheitseinrichtungen sind weiterhin die bekannten Probleme wie das Fehlen bzw. die unzureichende Belieferung von Medikamenten, medizinischen Verbrauchsmaterialien und Medizintechnik, der schlechte bauliche Zustand zahlreicher Einrichtungen des Gesundheitswesens und andere Mängel.
Solche u. a. Erscheinungen werden verstärkt von Mitarbeitern des Gesundheitswesens und anderen Bürgern zum Anlass genommen, das Gesundheitswesen der DDR insgesamt zu kritisieren. Äußerungen von Ärzten und anderen Mitarbeitern des Gesundheitswesens sowie von Patienten nehmen zu, in denen Unzufriedenheit, Unmut und zum Teil Resignation über die gegenwärtige Situation in vielen Gesundheitseinrichtungen, aber auch eine Negierung der Errungenschaften in diesem Bereich zum Ausdruck kommen. Von einer zunehmend größeren Zahl von Ärzten wird die Frage nach der weiteren Entwicklung des Gesundheitswesens in der DDR gestellt.
Im Zusammenhang mit der Nationalen Gesundheitskonferenz gibt es daher bei einem Teil der Ärzte und der anderen Mitarbeiter des Gesundheitswesens große Erwartungen hinsichtlich neuer, konkreter Beschlüsse zur Überwindung der Mängel und Schwierigkeiten im Sinne dauerhafter Lösungen für die Versorgung mit Arzneimitteln, medizinisch-technischen Erzeugnissen, höheren Fonds für Bau- und Ausrüstungsinvestitionen, lohnverändernde Maßnahmen, um z. B. den akuten Schwesternmangel zu beseitigen, und für andere Probleme.
Bei Ärzten, die sich als »realistisch denkend« einschätzen, sind solche Erwartungshaltungen nicht vorhanden. Sie gehen davon aus, dass in absehbarer Zeit Investitionen vor allem im produzierenden Bereich der Volkswirtschaft erforderlich sind und vor dem Gesundheitswesen die Aufgabe steht, im Wesentlichen mit den vorhandenen bzw. reduzierten Fonds das Niveau der gesundheitlichen Betreuung weiter zu gewährleisten.
Nach weiter vorliegenden Hinweisen wird von Ärzten und anderen Beschäftigten des Gesundheitswesens eine durchgängige und prinzipielle positive Veränderung der Lage in diesem Bereich angesichts ständig vorhandener Mängelerscheinungen und der sich verschärfenden Arbeitskräftesituationen bezweifelt.
Von einigen Ärzten wird Inhalt und Verlauf der Nationalen Gesundheitskonferenz als »Prüfstein für die Reformfähigkeit unserer Gesellschaftsordnung« angesehen. Nach ihrer Meinung müsste abgewartet werden, ob die tatsächliche Lage bezüglich einiger Faktoren und Voraussetzungen für eine gesunde Lebensweise in der DDR offen angesprochen werden. Das würde z. B. den weiter steigenden Alkoholkonsum in der DDR und seine tatsächlichen Ursachen betreffen. Die Dimension dieses Problems werde durch die Tatsache deutlich, dass in der DDR ca. 250 000 alkoholabhängige Bürger offiziell bekannt seien und mehrere Tausend Bürger jährlich wegen Alkoholkrankheit über mehrere Monate in Gesundheitseinrichtungen mit hohen Kosten behandelt werden müssten.
Hinzu komme die Erkenntnis, dass der steigende Alkoholmissbrauch auch asoziales und anderes kriminelles Verhalten begünstige und die Arbeitsdisziplin und Leistungsbereitschaft negativ beeinflusse.
Als wesentliche Ursachen für den steigenden Alkoholkonsum sehen diese Ärzte bestimmte gesellschaftliche und persönliche Bedingungen und Probleme wie Unzufriedenheit über persönliche Entwicklungen und fehlende individuelle Entfaltungsmöglichkeiten, Konflikte mit staatlichen und gesellschaftlichen Instanzen, Nichtbewältigung des Alleinseins bei alten Menschen, Konflikte bei Jugendlichen und mangelnde gegenseitige Hilfe und Unterstützung bei der Lösung von Konflikten. (In diesem Zusammenhang verweisen die Ärzte auf die relativ hohe Zahl der Selbsttötungen in der DDR.)2
Solche Ansichten und Einschätzungen zum Problem des Alkoholismus in der DDR verbinden Ärzte mit energischen Forderungen nach
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Herauslösung von Spirituosen aus dem Warenangebot von Kaufhallen und Verkauf ausschließlich in Spezialgeschäften,
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Streichung des Sortiments – alkoholische Getränke – aus dem Umsatzplan der Handelseinrichtungen,
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Einschränkung der Delikatproduktion alkoholischer Getränke zugunsten von Fruchtsäften und anderen alkoholfreien Getränken.
Auf der Nationalen Gesundheitskonferenz erhoffen Ärzte auch eine offene Diskussion über die Möglichkeit gesünderer Ernährung, insbesondere durch die Bereitstellung eines größeren und erweiterten Angebotes von Gemüse, Obst, einschließlich Südfrüchten, Säften sowie fettarmer Fleisch-, Wurst- und Käsesorten, salzärmerer Nahrungsmittel (u. a. auch Brot) und von mehr Milchprodukten (z. B. Joghurt).
Zu diesen Fragen einer gesunden Ernährung werden Diskussionsbeiträge von Vertretern zuständiger Ministerien mit Meinungen und konkreten Vorschlägen erwartet.
Ebenso erwartet werden praktische Maßnahmen und Konsequenzen zur Zurückdrängung gesundheitsschädigender Lebensgewohnheiten, insbesondere des Rauchens.
Nach Auffassung von Ärzten, aber auch von gesundheitsbewussten Bürgern, sollten u. a. folgende Vorschläge geprüft werden:
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Kennzeichnung aller Zigarettenpackungen und anderer Tabakwaren durch entsprechende Aufdrucke als gesundheitsschädlich;
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prinzipielle Verteuerung gesundheitsschädigender Genussmittel (Die Mehreinnahmen sollten gesellschaftlich sinnvoll im Gesundheitswesen verwandt werden. Bestimmten Personenkreisen, z. B. Rentnern, könnte über eine Zulage ein Ausgleich für die Verteuerung gezahlt werden.);
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Veranlassung eines generellen Rauchverbots in bestimmten Bereichen (z. B. in Bahnhöfen, Flugzeugen, an bestimmten Arbeitsplatzen usw.);
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Verbesserung des Schutzes der Nichtraucher vor dem »rücksichtslosen Verhalten« der Raucher.
Weiterhin besteht unter Ärzten auch die Auffassung, dass in der DDR noch zu wenig für die Unfallverhütung getan werde. Zwar seien die Arbeitsunfälle kontinuierlich gesenkt worden, jedoch hätten sich Unfälle im Straßenverkehr, im Haushalt und in der Freizeit weiter erhöht. Unfälle bei Kindern und Jugendlichen nehmen absolut zu. Täglich sind ca. 20 000 Krankenhausbetten mit Unfallpatienten belegt. Die gesamtgesellschaftlichen Anstrengungen auf diesem Gebiet müssten nach Ansicht von Ärzten daher wesentlich erhöht werden, um das Unfallgeschehen insgesamt zurückzudrängen. Durch die zuständigen Organe müsse mit mehr Konsequenz und spürbaren Sanktionen gehandelt werden.
In allgemeinen Meinungsäußerungen zum Inhalt und Verlauf der Nationalen Gesundheitskonferenz wird von Mitarbeitern des Gesundheitswesens auch die Auffassung vertreten, dass die Konferenz ihr Ziel nur dann erreiche, wenn das, was wissenschaftlich als richtig erkannt und von der Bevölkerung als notwendig gefordert wird, auch durch die entsprechenden Staatsorgane realisiert wird.
Nach Meinung einzelner Ärzte sei zu »befürchten«, dass alle Diskussionsbeiträge der Nationalen Gesundheitskonferenz vorher abgestimmt und in ihrer Substanz eine kritische Betrachtungsweise der Probleme vermissen lassen werden.