Montagsdemonstration am 26.9. in Leipzig
26. September 1989
Information Nr. 428/89 über eine öffentlichkeitswirksame provokatorisch-demonstrative Aktion im Anschluss an das sogenannte Montagsgebet in der Nikolaikirche in Leipzig
Am 25. September 1989 fand in der Zeit von 17.00 bis 17.55 Uhr das sogenannte Montagsgebet unter Teilnahme von über 2 000 Personen (in den Vorwochen durchschnittlich 1 100 Personen) in der Nikolaikirche in Leipzig statt.1
Weitere ca. 1 000 Personen hatten sich wegen Überfüllung der Kirche auf dem Kirchenvorplatz und in den Zugangsstraßen versammelt.
Pfarrer Führer2 verlas einleitend einen an den Rat der Stadt Leipzig, Abteilung Innere Angelegenheiten, gerichteten Brief, unterzeichnet namens des Kirchenvorstandes und der Superintendentur Leipzig-Ost. Darin wird gegen den »Polizeieinsatz« im Anschluss an das Friedensgebet am 18. September 1989 »protestiert« und die Erwartung ausgesprochen, dass die dafür Verantwortlichen den künftigen Einsatz der Polizei grundsätzlich neu überprüfen, verbunden mit der Bitte, auf eine »derartige Machtdemonstration staatlicher Organe zu verzichten«. Außerdem werde erwartet, dass »seitens staatlicher Stellen die Entstehung öffentlicher Protestgruppen zum Anlass genommen wird, Angebote eines öffentlichen Dialogs zur gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation zu entwickeln und zu ermöglichen«.3
Führer gab bekannt, dass zur »Entlastung der Montagsgebete« in der Nikolaikirche und zur »Erweiterung der Basis« künftig zusätzliche »Friedensgebete« jeweils sonnabends in weiteren Kirchen der Stadt Leipzig durchgeführt werden sollen. Des Weiteren gab er Termine und Veranstaltungsorte zu Fürbittandachten für Inhaftierte bekannt.
Das »Montagsgebet« wurde durch den hinlänglich bekannten Pfarrer Wonneberger4 (Leipzig) zum Thema »Gewalt« gestaltet. In provokatorischer Absicht tätigte er gezielt Aussagen wie »Wer den Knüppel zieht, muss auch den Helm tragen« sowie »Wenn die Verfassung nicht dem Bürger nützt, muss die Verfassung geändert werden«.
Danach wurden durch Mitglieder des von Wonneberger geleiteten Arbeitskreises »Menschenrechte« in Fortsetzung und Anknüpfung an inhaltliche Aussagen des Gebetes Fürbitten gehalten u. a. für in der DDR und in der ČSSR inhaftierte Personen5 sowie für Polizisten, die »gegen ihren Willen die Staatsmacht verkörpern müssen«. Abschließend wurden die Anwesenden aufgefordert, sich beim Verlassen der Kirche ruhig, besonnen und gefasst zu verhalten, sich bei Konfrontation mit den Sicherheitsorganen unterzuhaken und hinzusetzen. Weitere gegebene Orientierungen bezogen sich auf das Verhalten bei Zuführungen und Vernehmungen (eindeutige Orientierung auf Aussageverweigerung).
Der Inhalt dieses Montagsgebetes erzeugte unter den Teilnehmern eine angeheizte Atmosphäre und aggressive Stimmung.
Nach Beendigung der Veranstaltung vereinten sich die Teilnehmer mit den auf dem Vorplatz versammelt gewesenen Personen zu einer auf ca. 3 500 Personen angewachsenen Menschenansammlung (hinsichtlich dieser Anzahl ist zu beachten, dass sich zu dieser Zeit in diesem Raum eine starke Personenbewegung vollzieht und sich deshalb unter diesen Personen auch normal dort bewegende bzw. sich aus Neugierde dort aufhaltende Personen befanden), die sich gegen 18.20 Uhr, initiiert durch eine ca. 300-köpfige Personengruppe, durch das Stadtzentrum in Leipzig in Richtung Georgiring bewegte. Diese Gruppe initiierte außerdem Sprechchöre mit Rufen wie »Freiheit« und den Gesang der Internationale sowie des Liedes »We shall overcome«.6
Gegen 18.50 Uhr begab sich diese Personenansammlung in voller Straßenbreite zum Vorplatz des Hauptbahnhofes Leipzig, zog weiter zum Friedrich-Engels-Platz und kehrte von da aus zum Hauptbahnhof zurück, wo sie sich teilweise auflöste. Ca. 800 Personen rotteten sich in der Westhalle des Hauptbahnhofes zusammen, wo sie – wie bereits während des Marsches – im Sprechchor »Neues Forum zulassen«7 riefen. Diese Personenkonzentration im Hauptbahnhof wurde durch Einsatzkräfte der DVP aufgelöst. Es wurden insgesamt sechs Personen zugeführt.
Im Ergebnis der bisher geführten Untersuchungen ist vorgesehen:
- –
gegen einen Zugeführten ein Ermittlungsverfahren ohne Haft gemäß §§ 137, 139 (3) StGB einzuleiten und ihn zu einer Geldstrafe von 1 000 Mark zu verurteilen;8
- –
fünf Zugeführte werden nach Belehrung aus dem Polizeigewahrsam entlassen.
Es wird vorgeschlagen:
Der Staatssekretär für Kirchenfragen sollte kurzfristig ein Gespräch mit Bischof Hempel9 (Dresden) zu den Vorgängen in Leipzig führen. Dabei sollte unmissverständlich die Rolle der montäglichen Friedensgebete als ständiger Ausgangspunkt für fortgesetzte und sich eskalierende Provokationen gegen den sozialistischen Staat dargestellt und diese als eklatante Verletzung des Artikels 39 der Verfassung der DDR10 sowie anderer Gesetze und Rechtsvorschriften seitens der Kirche charakterisiert werden.
Bischof Hempel sollte nachdrücklichst aufgefordert werden, die als Organisatoren und Gestalter des montäglichen Friedensgebetes wirkenden kirchlichen Amtsträger zu disziplinieren und derartigen Friedensgebeten einen ausschließlich religiösen Charakter zu verleihen.
Durch den Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig für Inneres die Pfarrer Führer und Wonneberger zu einer Aussprache vorzuladen, in deren Verlauf ein beauftragter Staatsanwalt – ausgehend davon, dass durch ihre Gestaltung des Montagsgebetes eine aggressive Atmosphäre geschaffen wurde, die den Ausgangspunkt für schwere Störungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit und anderer Rechtsverstöße bildete – beide Pfarrer nachdrücklich verwarnt und von ihnen künftig die strikte Einhaltung der Rechtsvorschriften der DDR fordert.
Nach erfolgter Identifizierung weiterer Beteiligter an der öffentlichkeitswirksamen Provokation weitere straf- und ordnungsrechtliche Maßnahmen einzuleiten und zu Antragstellern auf ständige Ausreise entsprechende Entscheidungen zur kurzfristigen Ausreise zu treffen.11
Künftig bei derartigen provokatorisch-demonstrativen Aktionen auch in den DDR-Medien in geeigneter Form zu reagieren.
Alle diese Maßnahmen erfolgten ohne den Einsatz polizeilicher Mittel; jedoch ist bei weiteren derartigen Zusammenrottungen ein Einsatz derselben nicht ausgeschlossen.