Motive für Anträge auf ständige Ausreise
9. September 1989
Hinweise auf wesentliche motivbildende Faktoren im Zusammenhang mit Anträgen auf ständige Ausreise nach dem nichtsozialistischen Ausland und dem ungesetzlichen Verlassen der DDR [Bericht O/225]
Die zu diesem Komplex in den letzten Monaten zielgerichtet erarbeiteten Erkenntnisse beweisen erneut, dass die tatsächlichen Handlungsmotive zum Verlassen der DDR sowohl bei Antragstellungen auf ständige Ausreise als auch für das ungesetzliche Verlassen im Wesentlichen identisch sind.1
Sie haben sich in der Regel im Ergebnis eines längeren Prozesses der Entwicklung bestimmter Auffassungen und Haltungen und des Abwägens daraus abzuleitender persönlicher Schlussfolgerungen herausgebildet und sind häufig verfestigt. Im Wesentlichen handelt es sich um ein ganzes Bündel im Komplex wirkender Faktoren.
Es zeigt sich, dass diese Faktoren unter dem Einfluss der ideologischen Diversion des Gegners,2 insbesondere über die Massenmedien, und durch andere westliche Einflüsse – zunehmend vor allem über Rückverbindungen von ehemaligen Bürgern der DDR, Besuchsaufenthalte von DDR-Bürgern im westlichen Ausland bzw. von Personen des nichtsozialistischen Auslandes in der DDR usw. – bei einer nicht unerheblichen Anzahl von Bürgern der DDR als Gründe/Anlässe sowohl für Bestrebungen zur ständigen Ausreise als auch des ungesetzlichen Verlassens der DDR genommen werden.
Die überwiegende Anzahl dieser Personen wertet Probleme und Mängel in der gesellschaftlichen Entwicklung, vor allem im persönlichen Umfeld, in den persönlichen Lebensbedingungen und bezogen auf die sogenannten täglichen Unzulänglichkeiten, im Wesentlichen negativ und kommt davon ausgehend, insbesondere durch Vergleiche mit den Verhältnissen in der BRD und in Westberlin, zu einer negativen Bewertung der Entwicklung in der DDR.
Die Vorzüge des Sozialismus, wie z. B. soziale Sicherheit und Geborgenheit, werden zwar anerkannt, im Vergleich mit aufgetretenen Problemen und Mängeln jedoch als nicht mehr entscheidende Faktoren angesehen. Teilweise werden sie auch als Selbstverständlichkeiten betrachtet und deshalb in die Beurteilung überhaupt nicht mehr einbezogen oder gänzlich negiert. Es kommt zu Zweifeln bzw. zu Unglauben hinsichtlich der Realisierbarkeit der Ziele und der Richtigkeit der Politik von Partei und Regierung, insbesondere bezogen auf die innenpolitische Entwicklung, die Gewährleistung entsprechender Lebensbedingungen und die Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse. Das geht einher mit Auffassungen, dass die Entwicklung keine spürbaren Verbesserungen für die Bürger bringt, sondern es auf den verschiedensten Gebieten in der DDR schon einmal besser gewesen sei. Derartige Auffassungen zeigen sich besonders auch bei solchen Personen, die bisher gesellschaftlich aktiv waren, aus vorgenannten Gründen jedoch »müde« geworden seien, resigniert und schließlich kapituliert hätten.
Es zeigt sich ein ungenügendes Verständnis für die Kompliziertheit des sozialistischen Aufbaus in seiner objektiven Widersprüchlichkeit, wobei aus ihrer Sicht nicht erreichte Ziele und Ergebnisse sowie vorhandene Probleme, Mängel und Missstände dann als fehlerhafte Politik interpretiert und gewertet werden.
Diese Personen gelangen in einem längeren Prozess zu der Auffassung, dass eine spürbare, schnelle und dauerhafte Veränderung ihrer Lebensbedingungen, vor allem bezogen auf die Befriedigung ihrer persönlichen Bedürfnisse, nur in der BRD oder Westberlin realisierbar sei.
Obwohl in jedem Einzelfall ganz konkrete, individuelle Fakten, Erscheinungen, Ereignisse, Erlebnisse usw. im Komplex auf die Motivbildung zum Verlassen der DDR einwirken, wird im Folgenden eine Zusammenfassung wesentlicher diesbezüglicher zur Motivation führender Faktoren vorgenommen.
Als wesentliche Gründe/Anlässe für Bestrebungen zur ständigen Ausreise bzw. das ungesetzliche Verlassen der DDR – die auch in Übereinstimmung mit einer Vielzahl Eingaben an zentrale und örtliche Organe/Einrichtungen stehen – werden angeführt:
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Unzufriedenheit über die Versorgungslage;
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Verärgerung über unzureichende Dienstleistungen;
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Unverständnis für Mängel in der medizinischen Betreuung und Versorgung;
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eingeschränkte Reisemöglichkeiten innerhalb der DDR und nach dem Ausland;
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unbefriedigende Arbeitsbedingungen und Diskontinuität im Produktionsablauf;
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Unzulänglichkeiten/Inkonsequenz bei der Anwendung/Durchsetzung des Leistungsprinzips sowie Unzufriedenheit über die Entwicklung der Löhne und Gehälter;
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Verärgerung über bürokratisches Verhalten von Leitern und Mitarbeitern staatlicher Organe, Betriebe und Einrichtungen sowie über Herzlosigkeit im Umgang mit den Bürgern;
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Unverständnis über die Medienpolitik der DDR.
Hierzu im Einzelnen:
Unzufriedenheit über die Versorgungslage
Den größten Umfang im Motivationsgefüge nimmt die Kritik an der Versorgung der Bevölkerung ein. Auf Unverständnis stoßen vor allem anhaltende Mängel bei der kontinuierlichen Versorgung mit hochwertigen Konsumgütern (Pkw, Möbel, Textilien, Schuhe, Heimelektronik usw.) sowie Ersatzteilen, mit Baustoffen und Baumaterialien sowie mit bestimmten Waren des täglichen Bedarfs (z. B. hochwertige Lebensmittel, Frischobst, Gemüse, häufig wechselnde Artikel der »1 000 kleinen Dinge«).
Darin einbezogen sind die Warenstreuung, der Frischheitsgrad der Lebensmittel, Versorgungslücken, das fehlende durchgängige Angebot bis Ladenschluss und die damit im Zusammenhang stehenden Transportprobleme.
Die betreffenden Personen verweisen insbesondere auf das damit verbundene »Schlange stehen«, das Herumlaufen und die Suche nach bestimmten Artikeln, das »Beschaffen und Organisieren« auch während der Arbeitszeit und den Erwerb bestimmter Waren nur über »Beziehungen«, und resümieren, dass das alles nicht mehr zu ertragen sei.
Diese Argumentation erfährt ihre Zuspitzung durch den Verweis darauf, dass die Besitzer von Devisen (nicht nur im Intershop-Laden3) im Wesentlichen alles erwerben könnten.
Es wird Kritik am sogenannten doppelten Währungssystem, an Intershops, Valutahotels und an »Privilegien« für Devisenbesitzer geübt.
Der vorgenannte Personenkreis zweifelt – häufig unter Verweis auf die Beständigkeit bzw. Zunahme derartiger Erscheinungen – generell an der Lösung dieser die Bürger bewegenden Probleme.
Verärgerung über unzureichende Dienstleistungen
Im engen Zusammenhang mit den insgesamt vertretenen Auffassungen zur Versorgungslage stehen die vielfältigen Probleme im Dienstleistungsbereich. Es wird insbesondere auf fehlende bzw. begrenzte Kapazitäten bei Reparatur- und Dienstleistungen verwiesen. Fehlende Ersatzteile, zum Teil lange Wartezeiten sowie die kundenunfreundliche Behandlung der Bürger im Dienstleistungsbereich, in Gaststätten sowie in Verkaufseinrichtungen stehen im Mittelpunkt kritischer Äußerungen.
Unverständnis für Mängel in der medizinischen Betreuung und Versorgung
Die medizinische Betreuung und Versorgung der Bevölkerung sowie die Situation im Gesundheitswesen wird unter Hinweis auf fehlendes medizinisches Personal und fehlende Bettenkapazität ernste Mängel auf den Gebieten der Patientenbetreuung, Diagnostik, Medikamentenversorgung, Anwendung moderner medizinischer Behandlungsmethoden, Ausstattung mit Medizintechnik, hinsichtlich der Hygienebedingungen, der Arbeits- und Lebensbedingungen des medizinischen Personals als völlig unbefriedigend bezeichnet.
Das wirke sich auch negativ auf die in diesem Bereich tätigen Kräfte aus, weil sie – so wird argumentiert – nicht den Erfordernissen entsprechend tätig werden könnten.
In diesem Zusammenhang werden auch »bürokratische Auflagen«, »bürokratische Zwänge« durch übergeordnete Leitungen genannt, die von der eigentlichen Wahrnehmung medizinischer Aufgaben abhalten würden (z. B. Überlastung durch berufsfremde Tätigkeit).
Eingeschränkte Reisemöglichkeiten innerhalb der DDR und nach dem Ausland
Bemängelt werden von den betreffenden Personenkreisen sowohl die ihrer Ansicht nach ungenügenden Reisemöglichkeiten innerhalb der DDR infolge fehlender Hotel- und Ferienplätze als auch die eingeschränkten Reisemöglichkeiten nach dem sozialistischen und nichtsozialistischen Ausland.
Unter anderem wird die zum Teil fehlende Sauberkeit in Städten, Gemeinden, kommunalen u. a. Einrichtungen sowie öffentlichen Verkehrsmitteln kritisiert – oftmals unter Bezugnahme auf in der BRD und Westberlin diesbezüglich festgestellte gegensätzliche Erscheinungen.
Wiederholt wird auch darauf hingewiesen, dass man Bürgern der DDR infolge fehlender Devisen im sozialistischen Ausland nicht die gebührende Achtung und Aufmerksamkeit entgegenbringt. Es mehrten sich auch Erscheinungen eines sich verschlechternden Reiseservices.
Bezüglich des Reiseverkehrs nach dem nichtsozialistischen Ausland konzentrieren sich die Diskussionen und Beschwerden insbesondere auf abgelehnte Privat- und Touristenreisen – begünstigt vor allem durch die in anderen sozialistischen Staaten nach Abschluss der Wiener KSZE-Nachfolgekonferenz geschaffenen größeren Reisemöglichkeiten4 – und die Nichtgenehmigung der Teilnahme an ausländischen Kongressen sowie die Ablehnung von ständigen Ausreisen.
Teilweise ist auch die »Befürchtung«, dass es zukünftig zu Schwierigkeiten bei der Genehmigung von Reisen nach der BRD/Westberlin kommen könnte, Anlass für die Nichtrückkehr in die DDR.
Unbefriedigende Arbeitsbedingungen und Diskontinuität im Produktionsablauf
Häufig wird ein Widerspruch gesehen zwischen den Leistungsanforderungen und den die Planerfüllung nachhaltig negativ beeinflussenden Faktoren. Als derartige Faktoren werden insbesondere genannt:
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der physisch und moralisch verschlissene Zustand von Maschinen/Anlagen, Produktionsgebäuden, Stallgebäuden und Transporttechnik in Betrieben/Kombinaten und Produktionsgenossenschaften,
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Mängel in der Leitung und Organisation von Produktionsprozessen, insbesondere hinsichtlich der Diskontinuität der Produktion durch nicht ausreichende bzw. diskontinuierliche Bereitstellung von Materialien und Hilfsmitteln, und damit verbundene Auswirkungen auf die Werktätigen,
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die ungenügende Modernisierung/Ausstattung der Institute/wissenschaftlichen Einrichtungen mit hochleistungsfähiger Forschungs-, Informations- und Kommunikationstechnik sowie das Fehlen von Bio- und Feinchemikalien,
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von angeblicher Kurzsichtigkeit zeugende getroffene Entscheidungen über Reduzierungen finanzieller und materieller Fonds,
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die Zurückstellung von Bau- und Rekonstruktionsmaßnahmen in Kombinaten, Einrichtungen, Universitäten usw., die zu erheblichen Nachteilen für die Volkswirtschaft der DDR führen würden. Der »allgemeine Verschleiß« müsse zwangsläufig eine weitere Vergrößerung des Abstandes zur Weltspitze nach sich ziehen.
In den Arbeitsstellen hätten Bürokratismus und Berichtswesen ein nicht mehr zu vertretendes Ausmaß erreicht, das sich spürbar negativ auf die Arbeit mit und in den Kollektiven und die Organisation von Produktionsprozessen auswirke. Des Weiteren seien Forschungsvorhaben durch bürokratische Planung beeinträchtigt und somit wäre ein echter wissenschaftlicher Vorlauf nicht mehr gewährleistet.
In zunehmendem Maße müssten auftretende Unzulänglichkeiten und Störungen im Produktionsprozess durch zusätzliche physische Leistungen der Werktätigen und zum Teil auch unter Inkaufnahme grober Verletzungen der geltenden Bestimmungen des Gesundheits-, Arbeits-und Brandschutzes sowie von Verkehrs- und Betriebssicherheit kompensiert werden. Verbreitet ist die Auffassung, dass der geforderte Leistungszuwachs in der Volkswirtschaft nur auf Kosten der Arbeiter und Genossenschaftsbauern erreicht werde.
Das Arbeitsklima würde auch beeinträchtigt durch
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gestörte Beziehungen zwischen Leitern und Kollektiven,
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Verärgerung über nichteingehaltene Zusicherungen bezüglich beruflicher Perspektive und Entwicklungsmöglichkeiten (wie Übernahme von Leitungsfunktionen), wobei durch Strukturveränderungen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen Leitungsfunktionen in Wegfall kamen, was jedoch von den Betroffenen nicht verstanden wurde.
Das alles ist verbunden mit erheblichen Zweifeln an der positiven Veränderung dieser Situation und hat zu Ermüdungserscheinungen, Skepsis und Resignation unter dem betreffenden Personenkreis geführt.
Unzulänglichkeiten/Inkonsequenz bei der Anwendung/Durchsetzung des Leistungsprinzips sowie Unzufriedenheit über die Entwicklung der Löhne und Gehälter
Es wird auf Unzulänglichkeiten/Inkonsequenz bei der Anwendung und Durchsetzung des Leistungsprinzips auf allen Leitungsebenen hingewiesen. Tendenzen der Gleichmacherei und der Bezahlung von nichterbrachten Leistungen würden immer mehr zunehmen.
Der leistungsabhängige Lohnanteil insgesamt sei zu gering, um das Erbringen überdurchschnittlicher Arbeitsleistungen zu stimulieren. Das führe auch zum Rückgang der Arbeitsdisziplin.
Auch halte nach Meinung der betreffenden Personen die Entwicklung der Löhne und Gehälter den ständig wachsenden Preisen nicht stand. Dieses wirke sich immer stärker auch negativ auf die Erhaltung des erreichten Lebensniveaus aus.
Vielfach wird in diesem Zusammenhang von einer »Preisexplosion« gesprochen, mit der angeblich Unzulänglichkeiten in der Wirtschaftsführung auf Kosten der Werktätigen »ausgebügelt« werden sollen. Für das erarbeitete Geld könne man sich kaum etwas kaufen, durch schleichende Preiserhöhungen in allen anderen Bereichen würde die Propaganda und Argumentation hinsichtlich stabiler Preise bei Grundnahrungsmitteln gegenstandslos, eine Reihe von Erzeugnissen, z. B. Pkw, Fernsehgeräte, Möbel seien auch für gut verdienende Leute nur noch schwer erschwinglich.
Weiter wird argumentiert, dass
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trotz schlechter gewordener Qualität der Erzeugnisse – auch bei hochwertigen Konsumgütern – die Preise gestiegen seien (dabei werden vor allem genannt: Möbel und Polsterwaren, Textilien – auch im Exquisitangebot5 – und Schuhe sowie Pkw),
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im Ergebnis geringfügiger technischer Veränderungen bzw. ausgewiesener technischer Weiterentwicklungen, womit letztlich auch der erhöhte Preis begründet wird, zum Teil keine adäquate Erhöhung des Gebrauchswertes erkennbar bzw. vorhanden sei und
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die allgemeine Preisentwicklung (Lohn-Preis-Spirale) nicht durch die realisierten Sozialmaßnahmen (Lohnentwicklung, Kindergeld, Ehekredite) aufgewogen werde.
Verärgerung über bürokratisches Verhalten von Leitern und Mitarbeitern staatlicher Organe, Betriebe und Einrichtungen sowie über Herzlosigkeit im Umgang mit Bürgern
Von den zuständigen staatlichen Organen und Einrichtungen würde den Bürgern auch bei Vorliegen berechtigter persönlicher Anliegen häufig keine Hilfe und Unterstützung gegeben. Teilweise resultiere das aus solchen subjektiven Gründen wie fehlendem Engagement bzw. hartnäckigem »Dranbleiben« bis zur Klärung der Angelegenheit durch Mitarbeiter von Staatsorganen oder sei auf fehlende objektive Voraussetzungen zurückzuführen, die dem Bürger jedoch zu selten in überzeugender Art und Weise erläutert würden. Außerdem würden die Rechte der Bürger noch zu wenig deutlich gemacht.
Vor allem durch unbeherrschtes Auftreten, durch taktisch unkluges Verhalten entstehe beim Bürger häufig der Eindruck, dass
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seine eigenen Ideen und Gedanken nicht gefragt seien, er in der DDR überflüssig sei,
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seine Individualität und sein Handlungsspielraum eingeschränkt wären und
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sie nicht als mündige Bürger, die über ihre ureigensten Angelegenheiten selbst entscheiden wollen, behandelt würden.
Weiter wird häufig das Fehlen der geforderten Bürgernähe sowie des feinfühligen Umganges mit den Bürgern angesprochen. Das beziehe sich auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens.
Unverständnis über die Medienpolitik der DDR
In die Bewertungen und negativen Schlussfolgerungen werden durch Antragsteller auf ständige Ausreise bzw. Personen, die mit dem ungesetzlichen Verlassen der DDR in Erscheinung getreten sind, oft auch Vergleiche einbezogen, die sich auf die offiziellen Verlautbarungen und die Berichterstattung in den Medien der DDR und die gesammelten persönlichen Erfahrungen beziehen. Insbesondere betrifft dies Berichte und Statistiken über die Erfüllung und Übererfüllung von Plankennziffern, über Steigerungsraten bei der Konsumgüterproduktion oder der Ersatzteilproduktion, den Grad der Versorgung mit neuen oder modernisierten Wohnungen, über positive Beispiele der engen Verbindung und Zusammenarbeit von Bevölkerung sowie territorialen Staatsorganen und Volksvertretungen. Diese fast ausschließlich positive Darstellung wird in negative Beziehung gesetzt zu entgegengesetzten persönlichen Erfahrungen und Lebensverhältnissen.
In diesem Zusammenhang werden diesbezügliche Veröffentlichungen in den Medien der DDR, z. B. über die planmäßige Entwicklung der Volkswirtschaft und die Erhöhung des Warenumsatzes im Handel, vielfach als »Zweckpropaganda« bezeichnet. Das wirkliche Leben sei ganz das Gegenteil von dem, was in den Massenmedien dargestellt wird. So würden den Veröffentlichungen in den Medien über erfüllte und übererfüllte Pläne im täglichen Leben eine Vielzahl nichterfüllter Wünsche gegenüberstehen, Planerfüllungen würden häufig nur auf der Grundlage von Planpräzisierungen, Plankorrekturen bzw. im Ergebnis von Planmanipulationen zu Stande kommen.
Abschließend wird darauf hingewiesen, dass die angeführten motivbildenden Faktoren zum Teil verknüpft sind mit
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illusionären Vorstellungen über die »westliche« Lebensweise, insbesondere der Erwartung eines Lebens mit »besserer« materieller Sicherstellung und »besseren« beruflichen Verdienstmöglichkeiten, von mehr »Freizügigkeit« zur Verwirklichung eines eigenen Lebensstils auf der Grundlage eines egoistischen Konsum- und Besitzstrebens und
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Einstellungen, Auffassungen und Charaktereigenschaften wie Egoismus, Habsucht, Karrierismus, Unmoral, Selbstüberschätzung usw.
Im untrennbaren Zusammenhang damit wirken aktuelle Entwicklungstendenzen in anderen sozialistischen Staaten, insbesondere in der Ungarischen Volksrepublik, Volksrepublik Polen und der Sowjetunion,6 durch die in beachtlichem Umfang Zweifel an der Einheit, Geschlossenheit und damit der Stärke der sozialistischen Staatengemeinschaft entstanden sind, die zunehmend auch zu Zweifeln an der Perspektive und Sieghaftigkeit des Sozialismus überhaupt führen.
Weitere Motive zum Verlassen der DDR resultieren im geringen Umfang sowohl aus echten humanitären Gründen (z. B. Eheschließung, Familienzusammenführung), aus der »Lösung« von familiären oder persönlichen Konflikten, Abenteuerlust als auch aus Bestrebungen, sich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit zu entziehen.
Bei der gesamten Einschätzung ist zu beachten, dass Antragsteller auf ständige Ausreise bzw. Personen, die mit dem ungesetzlichen Verlassen der DDR in Erscheinung treten, in der Regel politisch nichts mehr mit der DDR verbindet. Sie handeln jedoch mehrheitlich nicht aus einer grundsätzlich feindlichen Einstellung heraus.
Die Zurschaustellung feindlicher Haltungen ist in vielen Fällen darauf zurückzuführen, dass sich die betreffenden Bürger auf diese Weise größere Chancen für die Genehmigung ihrer ständigen Ausreise ausrechnen. Sie treten in der Regel mit Argumenten des Gegners auf, ohne diese in der Auseinandersetzung, z. B. mit den zuständigen staatlichen Organen, fundiert begründen zu können.