Politisch-ideologische Situation in LDPD
14. April 1989
Information Nr. 125/89 über einige beachtenswerte Aspekte der politisch-ideologischen Situation in der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (LDPD)
Nach streng intern vorliegenden Hinweisen wird die auf der erweiterten Sitzung des Politischen Ausschusses des Zentralvorstandes der LDPD am 13. September 1988 vom Vorsitzenden der LDPD, Prof. Dr. Manfred Gerlach,1 erläuterte politische Linie der Partei weiter verfolgt und ausgestaltet.2
Die vom gesamten Parteivorstand getragene und von einigen leitenden Funktionären der LDPD als »Gratwanderung« charakterisierte politische Linie gehe davon aus, dass die LDPD eine im und für den Sozialismus wirkende Partei ist und bleibt, die im Bündnis mit der Partei der Arbeiterklasse und bei Anerkennung ihrer führenden Rolle bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der DDR ihrer staatstragenden Funktion gerecht wird. In diesem Sinne wolle sich die LDPD noch mehr als politischer Interessenvertreter ihrer Mitglieder und ihr nahestehender sozialer Schichten profilieren. Sie strebe an, im Prozess der weiteren Ausprägung der sozialistischen Demokratie stärker im Vorfeld politischer Entscheidungen mit größerer Selbstständigkeit ihre Standpunkte sichtbar zu machen und konstruktiv-kritisch wirksam zu werden.
Dabei beabsichtige die LDPD nicht, eine »Oppositions- oder Forderungspartei« zu werden, sondern stets auch konkrete Verantwortung zu übernehmen.
In Umsetzung dieser politischen Linie habe die LDPD umfangreiche Aktivitäten in Vorbereitung auf den XII. Parteitag der SED3 entwickelt. So sei im Auftrage des Parteivorstandes der LDPD eine Konzeption zur Erarbeitung von Vorschlagskomplexen4 in Vorbereitung des XII. Parteitages der SED erarbeitet worden, in der die politische Position der LDPD zu wesentlichen Seiten der Politik der Partei der Arbeiterklasse in allen gesellschaftlichen Bereichen bestimmt wird. (Der Wortlaut der Konzeption liegt vor.) Es sei zu erkennen, dass die LDPD grundsätzlich mit der Gesellschafts- und ökonomischen Strategie der SED übereinstimme, zu deren Verwirklichung einen eigenständigen Beitrag leisten wolle und stärker konstruktive Vorschläge einzubringen beabsichtige, die ihren Vorstellungen zufolge auf eine noch erfolgreichere Durchsetzung des innenpolitischen Kurses der SED gerichtet seien. In diesem Zusammenhang erscheinen einige, in der Konzeption enthaltene Wertungen zu bestimmten gesellschaftspolitischen Problemen besonders beachtenswert im Hinblick auf die mögliche Unterbreitung entsprechender Vorschläge seitens der LDPD. Solche Einschätzungen bzw. Feststellungen sind z. B.:
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Gesamtgesellschaftliche Mitverantwortung ernst zu nehmen, bedeutet, ohne Tabus und in Meinungsvielfalt Probleme und Lösungswege aufzuzeigen.
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Die praktische Nutzung der sozialistischen Planwirtschaft für die effektive Durchführung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses ist unabdingbar; erforderlich ist aber eine bedeutende Reduzierung der Plankennziffern.
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Bei Wahrung sozialer Sicherheit als Grundqualität unserer Gesellschaftsordnung sollten im Interesse eines richtigen Wertverhaltens der Bürger ausgewählte Preise und Tarife neu gestaltet werden (Mieten – Zuschlag für unterbelegten Wohnraum; Abbau der subventionierten Preise für Kinderbekleidung bei ausgleichender Erhöhung des Kindergeldes).
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Die Informationspolitik in den Medien der DDR ist für viele Bürger nicht zufriedenstellend. Der Bürger der DDR muss sich in Medien bedeutend stärker als bisher mit seinen Alltagsproblemen wiederfinden. Es geht um richtige Proportionen zwischen Erfolgen und noch zu lösenden Problemen. Größere Offenheit5 kann positiv motivieren.
Die bisher praktizierten Monatsberichte über den Stand der Planerfüllung sind so zu verändern, dass sie für alle Bürger verständlich sind und gleichzeitig mobilisierend wirken. Wenn das nicht geht, ist auf solche Berichte zu verzichten. Notwendige Maßnahmen der DDR, bei denen man voraussehen kann, dass sie von vielen Bürgern als unpopulär empfunden werden, bedürfen der sofortigen gründlichen Erläuterung.
Der richtige Grundsatz, dass wir nicht über jeden Stock springen, den uns der Gegner hinhält, rechtfertigt nicht die Zurückhaltung unserer Information in manchen Fragen, die unsere Bürger genau geklärt wissen möchten. Die Beurteilung kritischer Veröffentlichungen darf nicht von der Reaktion der Gegner bestimmt werden. Es darf keine Nachrichten und Kommentare geben, deren Verständnis die vorherige Kenntnis westlicher Publikationen voraussetzt.
Seitens der LDPD sei vorgesehen, ihre Vorschläge zum XII. Parteitag der SED mit den zuständigen Fachabteilungen des ZK der SED im Detail zu beraten sowie den Inhalt der Vorschläge und ihre Beantwortung möglicherweise in der LDPD-Presse zu publizieren, um den eigenen Beitrag der LDPD deutlich zu machen.
Nach Äußerungen von Prof. Gerlach werde durch das ZK der SED ein Vorschlag der LDPD geprüft, die Sitzungen des Demokratischen Blocks6 sowie die Beratungen der örtlichen Gremien der Nationalen Front7 für Problemdiskussionen im Vorfeld zu treffender Entscheidungen zu nutzen.
Bezogen auf die Informationspolitik würden Führungskräfte der LDPD davon ausgehen, dass es noch keine Übereinstimmung mit der SED gebe. Die SED bestünde weiter darauf, Kritik nur am konkreten Gegenstand mit dem Angebot von Lösungsvarianten zu üben. In diesem Zusammenhang erklärte Prof. Gerlach intern, dass er, ohne sich mit dem Inhalt der sowjetischen Zeitschrift »Sputnik« zu identifizieren, deren »Verbot« für falsch halte.8
In Vorbereitung auf den XII. Parteitag der SED seien außerdem Äußerungen einzelner Bezirksvorsitzender der LDPD auf einer Beratung der Bezirksvorsitzenden Ende vergangenen Jahres beachtenswert, wonach in der DDR eine marktorientierte wirtschaftliche Rechnungsführung erforderlich sei, das Gesetz der proportionalen Entwicklung der Volkswirtschaft missachtet werde und die Herstellung eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen Leistung und Vergütung notwendig wäre.
Hier einzuordnen sind auch Einzelhinweise, denen zufolge junge Mitglieder und Mitglieder von Kreisverbänden, insbesondere von Orts- und Wohngebietsgruppen der LDPD, von ihrer Partei in gesellschaftspolitischen Fragen mehr Freimütigkeit und Durchsetzungsraft und ein klares Bekenntnis derart erwarten, dass die LDPD eine nichtmarxistische Partei sei, die, orientiert an den gegenwärtigen innenpolitischen Entwicklungen in der UdSSR und anderen sozialistischen Staaten, über den ihr möglichen Beitrag für und nicht gegen den Sozialismus in der DDR nachdenke, daraus ihr gesellschaftspolitisches Konzept entwickle und dementsprechend auch wirksam werde.
Es liegen vereinzelte Hinweise darüber vor, wonach Mitglieder der LDPD sowohl in Parteiveranstaltungen als auch im internen Gespräch ausgehend von den derzeitigen Entwicklungen in anderen sozialistischen Staaten Forderungen nach analogen innenpolitischen Veränderungen, nach tiefgreifenden politischen Reformen in der DDR erheben. Das sei ihrer Auffassung nach dringend notwendig, um das gesellschaftliche Leben in der DDR zu beleben. Der LDPD und den anderen Blockparteien müssten mehr politische Eigenständigkeit, Verantwortlichkeit und Mitspracherecht sowie »politische Bewegungsfreiheit« garantiert werden.
Nach Einschätzung des Parteivorstandes der LDPD sei es notwendig, die ideologische Arbeit in der Partei, insbesondere an der Basis, zu verstärken. Gerade dort, wo die Parteiarbeit im Wesentlichen von kommunalen Problemen (Versorgung, Dienstleistung u. Ä.) bestimmt sei, würden sich unter mittleren Funktionären und Mitgliedern Unklarheiten zur Gesellschafts- und ökonomischen Strategie der SED zeigen. In der ideologischen Arbeit unter den Parteimitgliedern käme es darauf an, besonders solche Erscheinungen zu beachten wie
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Unsicherheiten in der Einschätzung der Aggressivität des Imperialismus,
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wachsende Zweifel an der Wissenschaftlichkeit der marxistisch-leninistischen Lehre und der praktischen Führungstätigkeit der Partei der Arbeiterklasse, an der Überlegenheit der sozialistischen gegenüber der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und der Richtigkeit der Wirtschaftspolitik der SED,
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Zunahme von Gleichgültigkeit in politischen Fragen und Flucht in die private Sphäre.
Weiter streng intern vorliegenden Hinweisen zufolge habe Prof. Gerlach auf einer Beratung mit Funktionären der LDPD am 16. Dezember 1988 die Mitverantwortung der LDPD für die Jugendpolitik in der DDR betont (zu beachten ist, dass die LDPD bei der Mitgliederwerbung neben Angehörigen der Intelligenz, parteilosen Handwerkern besonders auch auf Jugendliche zielt). Er sei darüber besorgt, dass die FDJ immer weniger Jugendliche erreiche. In diesem Zusammenhang habe er ein Gespräch mit dem 1. Sekretär des Zentralrates der FDJ, Genossen Aurich,9 geführt (in diesem Gespräch, welches am 2. November 1988 stattfand, sei von Prof. Gerlach angekündigt worden, Erfahrungen der LDPD in der Jugendarbeit in einem »Positionspapier« dem ZK der SED zu übergeben). Prof. Gerlach habe während der Beratung mitgeteilt, er habe dazu in einem Gespräch mit dem Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der SED, Genossen Herrmann,10 klären können, dass mehr Mitverantwortung der LDPD bezogen auf die Arbeit der FDJ und Volksbildung nötig sei.
In Vorbereitung auf die Kommunalwahlen am 7. Mai 198911 fand am 30. Januar 1989 eine Beratung des Politischen Ausschusses des Zentralvorstandes der LDPD statt, an der Genosse Dr. Sorgenicht12 teilnahm. Dabei sei auf eine quantitative und qualitative Verbesserung der Abgeordnetentätigkeit orientiert und darauf verwiesen worden, dass überall dort, wo Ortsgruppen der LDPD existierten, diese auch durch Abgeordnete präsent sein sollten. Während der Beratung wäre die Zusammenarbeit auf kommunaler Ebene, die in Vorbereitung der Kommunalwahlen vor allem mit der SED und dem Staatsapparat erfolge, als sehr gut eingeschätzt worden. Probleme würden dort bestehen, wo die LDPD nicht über die kadermäßigen Voraussetzungen für die Aufstellung von Kandidaten und die Tätigkeit von Abgeordneten verfüge. Ideologische Probleme gebe es dahingehend, dass13
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einige Abgeordnete der LDPD eine erneute Kandidatur ablehnen würden, mit der Begründung, es erfolge eine Bevormundung vom Staatsapparat, sie hätten keinen Einfluss auf Veränderungen,
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Kandidaten bei einer Wahl als Abgeordnete befürchten, Reiseeinschränkungen bei Privatreisen in das NSA zu unterliegen,
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hauptamtliche Funktionen im Staatsapparat wegen damit verbundener finanzieller Nachteile zum Teil abgelehnt würden.
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