Probleme durch das Wirken antisoz. Sammlungsbewegungen
23. Oktober 1989
Information Nr. 471/89 über das Wirken antisozialistischer Sammlungsbewegungen und damit im Zusammenhang stehende beachtenswerte Probleme
Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen setzt sich der Prozess der DDR-weiten Formierung der bekannten antisozialistischen Sammlungsbewegungen fort.
Im Ergebnis
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der weiter anhaltenden Popularisierung ihrer Ziele und Inhalte durch Selbstdarstellung und Diskussion dazu in vielen gesellschaftlichen Bereichen,
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der Eingliederung von Mitgliedern der Sammlungsbewegungen in den begonnenen Prozess des Dialogs von Vertretern der Partei und des Staatsapparates mit allen Schichten der Bevölkerung, vor allem im kommunalen Bereich
sowie durch
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flächendeckende Ausbildung und Festigung ihrer Strukturen,
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eine sich weiter vervollkommnende Organisation
ist es den Inspiratoren/Organisatoren gelungen, ein politisch beachtliches Potenzial der Bevölkerung der DDR, vor allem jüngere Bürger, in ihrem Sinne zu beeinflussen, bei diesem Handlungsbereitschaften zu wecken und für entsprechende Aktivitäten zu nutzen.
Über den größten Einfluss und die weiteste Verbreitung verfügt nach wie vor das »Neue Forum«,1 dessen politisches Profil sich weiter ausgeprägt hat und dessen Leitungsstrukturen zum Teil bis zu Ortsgruppen wirken. (Während einer Zusammenkunft der Berliner »Kontaktadressen« des »Neuen Forums« am 18. Oktober 1989 wurde die Arbeitsfähigkeit von sogenannten Wohngebietsgruppen in allen Stadtbezirken der Hauptstadt bekannt gegeben.)
Feststellbar ist ein kontinuierlicher Ausbau der Kommunikationsstrukturen in allen antisozialistischen Sammlungsbewegungen. Neben den sogenannten Kontaktadressen oder »Sprechern« – diese Personen wirken als Informationsvermittler, Werber und Organisatoren – spielen bei der schnellen Übermittlung von Informationen und Gewährleistung eines angestrebten abgestimmten einheitlichen Vorgehens vor allem in Pfarrämtern eingerichtete sogenannte Kontakttelefone eine beachtenswerte Rolle. In breitem Umfang werden vorhandene private und kirchliche sowie gesellschaftliche und betriebliche technische Mittel und Möglichkeiten zur Vervielfältigung der bekannten konzeptionellen Papiere dieser Kräfte genutzt; die Verbreitung hält unvermindert an, und es ist davon auszugehen, dass derartige Materialien zwischenzeitlich einen sehr hohen Verbreitungsgrad unter der Bevölkerung gefunden haben.
In zunehmendem Maße ist ein Zusammengehen verschiedener antisozialistischer Sammlungsbewegungen erkennbar, so u. a. bei der Nutzung gleicher Veranstaltungen. Begünstigt wird das durch eine teilweise vorhandene Personalunion der Führungskräfte – der bekannte Heiko Lietz2 ist z. B. in zentrale Aufgaben sowohl des »Neuen Forums« als auch des »Demokratischen Aufbruchs«3 und der »SDP«4 eingebunden – bzw. durch langjähriges gegenseitiges Kennen und persönliches Zusammenwirken solcher Personen im Rahmen personeller Zusammenschlüsse. Hinweisen zufolge gibt es – ungeachtet bestehender Widersprüche in den Zielen, Vorgehensweisen usw. sowie hinsichtlich der persönlichen Ambitionen der Führungskräfte – erste Überlegungen bei Inspiratoren/Organisatoren von derartigen Bewegungen, im Interesse der Erhöhung der Wirksamkeit das bisherige Zusammenwirken organisatorisch auszubauen, u. a. durch die mögliche Integration einer Bewegung in die andere bzw. die Entwicklung des »Neuen Forums« als sogenannte Dachorganisation.
Bedeutendste Ausgangsbasis für das Wirken aller antisozialistischen Sammlungsbewegungen bilden nach wie vor die evangelischen Kirchen. Feststellungen zufolge nahmen in der Zeit vom 16. bis 22. Oktober 1989 an Veranstaltungen ausschließlich politischen Charakters in Kirchen und kirchlichen Räumen, in denen Kräfte antisozialistischer Sammlungsbewegungen ungehindert auftreten konnten, weit über 100 000 Personen teil. Fast alle diese Veranstaltungen verzeichnen eine in diesen Kirchen und in diesem Ausmaß bisher nicht gekannte Besucherresonanz: Görlitz – 7 000 Personen, Magdeburg – 6 000, Rudolstadt – 3 000. Eine sogenannte Informationsveranstaltung des »Neuen Forums« in der Friedrichskirche in Potsdam musste aus Kapazitätsgründen wegen des hohen Zuspruchs in insgesamt fünf Durchgängen erfolgen – es nahmen insgesamt ca. 6 000 Personen teil. In einigen Kirchen, so in der Gethsemanekirche in Berlin, wurde dazu übergegangen, fast täglich Veranstaltungen durchzuführen. Auch bei diesen ständig wiederkehrenden Veranstaltungen ist ein hoher Zustrom interessierter Personen feststellbar.
Bei der Mehrzahl dieser generell mit Wissen und Zustimmung kirchenleitender Kräfte und zum Teil unter unmittelbarer Mitwirkung der jeweiligen Gemeindepfarrer durchgeführten Veranstaltungen werden die Ziele und Inhalte der antisozialistischen Sammlungsbewegungen dargelegt, erläutert und diskutiert, verbunden mit immer massiver werdenden Angriffen gegen die Politik von Partei und Regierung, führende Repräsentanten, die Schutz- und Sicherheitsorgane. Breiten Raum nehmen nach wie vor Diskussionen zu Forderungen an den Staat (über deren Inhalt bereits informiert wurde) und zur Solidarisierung mit Inhaftierten ein. Immer wieder werden weitergehende Aktivitäten und Aktionen bekannt gegeben bzw. zu solchen aufgerufen.
Fortgeführt werden Unterschriftssammlungen. So wurden während der vorgenannten Veranstaltungen in der Friedrichskirche in Potsdam Handzettel verteilt, auf denen mit Angabe der Personalien durch Unterschrift bekundet werden sollte, dass ein gesellschaftliches Bedürfnis für die Zulassung des »Neuen Forums« bestehe.
Beachtenswert ist, dass die Ankündigung von solchen politischen Veranstaltungen in Kirchen und kirchlichen Räumen nicht mehr abgedeckt oder religiös verbrämt, z. B. als sogenannter Friedensgottesdienst, sondern überwiegend mit direktem Hinweis auf deren Inhalte in kirchlichen Schaukästen und anderweitig vorgenommen wird.
Es mehren sich Hinweise, wonach besonders im Sinne des »Neuen Forums« agierende Kräfte versuchen, auch andere Möglichkeiten für ihre »Tätigkeit« zu nutzen, so in studentischen und wissenschaftlichen Einrichtungen, in Betrieben und im kommunalen Bereich. Vielfach werden dabei durch falsche Angaben Verantwortliche über den tatsächlichen Zweck von Zusammenkünften getäuscht bzw. werden politisch und fachlich anders orientierte Veranstaltungen politisch missbraucht.
Kennzeichnend für das Wirken der Führungskräfte sowohl des »Neuen Forums« als auch anderer antisozialistischer Sammlungsbewegungen ist – begünstigt durch die ihrer Ansicht nach für sie günstig verlaufende Lageentwicklung – deren zunehmende Selbstsicherheit im öffentlichen Auftreten und eine damit verbundene deutlich stärkere Bekundung ihres Willens, als politische Opposition gelten und wirken zu wollen. So bewertet Pfarrer Tschiche5 das »Neue Forum« bereits als reale Massenbewegung. Seiner Auffassung nach sei der vom Staat angebotene Dialog lediglich ein Versuch, das »kritische Potenzial« zu zersplittern. Partei und Staatsmacht müssen weiter »durch die Straßen gedrängt« werden, bis deren Machtmonopol gebrochen ist; die SED dürfe in einer »künftigen Gesellschaft« keine Rolle mehr spielen. Der Organisator des »Neuen Forums« im Bezirk Karl-Marx-Stadt, Böttger,6 erklärte in Reaktion auf die 9. Tagung des ZK der SED,7 nunmehr müsse das »Neue Forum« verstärkt auf »politische, an die Substanz gehende Veränderungen drängen«. Man müsse auf einen »Machtwechsel« hinwirken, wozu eine »echte Opposition«, die auch künftig die Staatspolitik unter Kontrolle halten müsse, benötigt werde. Der bekannte Prof. Reich8 entwickelt Vorstellungen, den »Aktionsraum« des »Neuen Forums« durch »Infiltration« des FDGB und Ausnutzung der Blockparteien CDU und LDPD zu erweitern.
Reich orientierte ferner darauf, dass sich das »Neue Forum« an die Volkskammer wenden solle, falls keine positiven Antworten auf die Zulassungsanträge erfolgen.9
Führungskräfte und andere aktive Mitglieder antisozialistischer Sammlungsbewegungen agieren zunehmend überörtlich, treten im Rahmen von Zusammenkünften und Veranstaltungen in anderen Bezirken auf. Das betrifft sowohl Personen aus den sogenannten Führungsgremien, die in die Bezirke gehen, als auch Personen aus den Bezirksorganisationen, die an zentraler Stelle über die Lage in ihrem Territorium, konkrete Vorkommnisse und Ergebnisse von Aktivitäten berichten. Dieses, von der Arbeitsweise personeller Zusammenschlüsse her bekannte Vorgehen dient insbesondere dem Ziel des schnellen Informationsaustausches, des Bekanntmachens von Führungskräften auf den unteren Ebenen, der konzeptionellen Orientierung besonders auf die einheitliche politische Ausrichtung ihrer Forderungen und Aktivitäten und die bewusste Demonstration legalen Wirkens.
Nach vorliegenden streng internen Hinweisen treffen Führungskräfte des »Demokratischen Aufbruchs« Vorbereitungen zur Durchführung einer Gründungsversammlung am 29. Oktober 1989 im Evangelischen Diakoniewerk »Königin Elisabeth« in der Hauptstadt der DDR, Berlin. Auf dieser Zusammenkunft soll ein Arbeitspapier unter dem Titel »Was wollen wir« erörtert werden, in dem konzeptionelle Vorstellungen zu den Problemkreisen Ökonomie, Sozial- und Gesellschaftspolitik, Verfassungsrecht, Volkskammerwahlen und Steuerreform enthalten sind.10 Grundprinzip der Arbeit des »DA« soll die Orientierung auf Gewaltfreiheit sein.
Wie weiter bekannt wurde, traf am 11. Oktober 1989 beim Vorsitzenden der Sozialistischen Internationale,11 W. Brandt,12 der Aufnahmeantrag der »Sozialdemokratischen Partei in der DDR« ein. Der Rat der Sozialistischen Internationale beabsichtigt, auf seiner Sitzung am 23./24. November in Genf über diesen Aufnahmeantrag zu beraten.
Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen intensivieren die antisozialistischen Sammlungsbewegungen ihre Aktivitäten, unter Nutzung des politisch desolaten Zustandes in einigen zentralen Einrichtungen des Bereiches Kunst/Kultur und in den Künstlerverbänden sowie begünstigt durch die offene Bekundung der Übereinstimmung mit den Zielen und Inhalten derartiger »Bewegungen« seitens einer Reihe von Kulturschaffenden, im Bereich Kunst und Kultur Einfluss zu erlangen. So gelang es Führungskräften des »Neuen Forums« in letzter Zeit wiederholt, an Veranstaltungen und Zusammenkünften der Akademie der Künste der DDR bzw. von Künstlerverbänden teilzunehmen und ihr politisches Konzept zu erläutern. Sie werden dabei maßgeblich von der Schriftstellerin Christa Wolf13 unterstützt. Der DDR-Schriftsteller Stephan Hermlin14 bezeichnete das »Neue Forum« auf der am 19. Oktober 1989 stattgefundenen Vollversammlung der Akademie der Künste als »Motor für Fortschritte in der DDR«.
Auf einer durch den Bezirksverband Bildender Künstler Berlin erstmalig am 16. Oktober 1989 durchgeführten Zusammenkunft unter der Bezeichnung »Offene Stunde« – sie soll künftig wöchentlich stattfinden – wurde festgelegt, jeweils einer antisozialistischen Sammlungsbewegung die Möglichkeit zur Selbstdarstellung und zur Erläuterung ihrer Konzeptionen einzuräumen und dafür die Räumlichkeiten des Bezirksverbandes zur Verfügung zu stellen.
Darüber hinaus beabsichtigen auch andere Künstlerverbände, Vertreter des »Neuen Forums« zur Teilnahme an Diskussionsveranstaltungen einzuladen. (Für den 24. Oktober 1989 ist die Mitwirkung Bärbel Bohleys15 an einem Konzert- und Diskussionsabend im Haus der Jungen Talente/Berlin – verantwortlich: Vizepräsident des Komitees für Unterhaltungskunst der DDR, Toni Krahl16 – vorgesehen.)
Streng internen Hinweisen zufolge beabsichtigen Führungskräfte des »Neuen Forums«, die für den 19. November 1989 beantragte Demonstration von Berliner Künstlern zu nutzen, um mit eigenständigen Losungen und Forderungen aufzutreten.
Im Ergebnis vor allem des Wirkens von Kräften aus antisozialistischen Sammlungsbewegungen sowie in Anlehnung an frühere analoge Aktivitäten im Sinne des gewaltfreien Widerstandes fanden in der Woche vom 16. bis 22.10.198917 in nahezu allen Bezirken der DDR und der Hauptstadt Berlin 24 nicht genehmigte öffentliche Demonstrationen statt, an denen sich vorliegenden Hinweisen zufolge insgesamt über 140 000 Personen beteiligten. (Ein Eingreifen der Schutz- und Sicherheitsorgane war nicht erforderlich.) Sie fanden in der Regel nach Abschluss von politischen Veranstaltungen in Kirchen und dort erfolgten Aufforderungen zur Teilnahme statt.
Des Öfteren wurden derartige Demonstrationen auch durch verbreitete Hetzblätter bzw. durch Flüsterpropaganda bekannt gemacht. Vereinzelt wirkten auch andere personelle Zusammenschlüsse bzw. Einrichtungen mit. In diesem Sinne beteiligten sich z. B. das »Grün-ökologische Netzwerk Arche« Berlin18 und die »Umweltbibliothek« der Zionskirchengemeinde Berlin19 an der Vorbereitung der sogenannten Menschenkette am 21. Oktober 1989 in der Hauptstadt.20
Territoriale Schwerpunkte waren abermals Leipzig und Dresden mit ca. 70 000 bzw. 22 000 Personen sowie die Stadt und der Bezirk Karl-Marx-Stadt mit Teilnehmerzahlen in der Regel zwischen 2 000 bis 3 000, in einem Falle mit 25 000 Personen.
In den letzten Tagen erfolgten derartige Demonstrationen erstmals auch in den Bezirken Rostock und Neubrandenburg.
Die Demonstrationszüge führten stets durch die jeweiligen Stadtzentren. Sie erfolgten mehrfach als sogenannte Schweigemärsche, in mehreren Fällen unter Mitführung brennender Kerzen, in der Regel jedoch mittels Sprechchören und unter Verwendung von Sichtelementen.
Dabei wurden unter ständiger Betonung von und Aufforderung zur Gewaltlosigkeit grundsätzlich Forderungen nach Legalisierung der bekannten antisozialistischen Sammlungsbewegungen, insbesondere des »Neuen Forums«, nach Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten in der DDR, besonders der Informations-, Meinungs- und Reisefreiheit, nach Demokratisierung und Reformierung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR, einschließlich »freier und geheimer Wahlen« erhoben.
Beim Passieren von bzw. gezielten Vorbeilaufen an Gebäuden und Einrichtungen der Partei bzw. Objekten der Schutz- und Sicherheitsorgane erfolgten aus den Demonstrationszügen heraus in Einzelfällen Angriffe auf die führende Rolle der SED in der sozialistischen Gesellschaft sowie oftmals aggressiv formulierte Rufe nach Abschaffung des MfS.
Gesicherten internen Erkenntnissen zufolge unternahmen bestimmte Kräfte, insbesondere kirchliche Amtsträger und Vertreter antisozialistischer Sammlungsbewegungen Aktivitäten, derartige Demonstrationen analog dem Vorgehen in Leipzig regelmäßig zu organisieren und zwischen den verschiedenen Territorien zu koordinieren mit dem Ziel, die Partei- und Staatsführung permanent unter Druck zu setzen.
Beachtenswert in diesem Zusammenhang ist auch die seit Wochen anhaltende hohe Anzahl anonymer Gewaltandrohungen in Form des Führens anonymer Telefonanrufe bzw. Versendens anonymer Briefe, in denen besonders Einrichtungen der SED unterschiedlichster Ebenen, Dienststellen der Deutschen Volkspolizei und des MfS, staatlichen Organen sowie wirtschaftsleitenden und gesellschaftlichen Einrichtungen Gewaltakte in Form von Bomben-, Sprengstoff- und Brandanschlägen sowie einzelnen Parteifunktionären persönlich Angriffe auf Leben und Gesundheit angedroht werden.