Probleme mit PCB
13. Mai 1989
Information Nr. 241/89 über einige im Zusammenhang mit der Produktion, dem Einsatz und der schadlosen Beseitigung des umweltgefährdenden Stoffes polychlorierte Biphenyle (PCB) in der Volkswirtschaft der DDR stehende bedeutsame Probleme
Im Zusammenhang mit der Produktion, dem Einsatz und der schadlosen Beseitigung des umweltgefährdenden Stoffes polychlorierte Biphenyle (PCB) in der Volkswirtschaft der DDR liegen dem MfS eine Reihe sicherheitspolitisch beachtenswerter Erkenntnisse von Experten vor, über die nachfolgend informiert wird.
Im Verantwortungsbereich des Ministeriums für Elektrotechnik/Elektronik produzierten der VEB Isokond-Isolierstoff- und Kondensatorenwerk Berlin und der VEB Elektronik Gera bis Ende 1984 unter Verwendung von PCB-Tränkmitteln verschiedene Typen von Kondensatoren. Davon sind gegenwärtig etwa 300 000 Kondensatoren (ca. 9 000 Kubikmeter Volumen) aus der Produktion des Berliner Betriebes und ca. 2,7 Mio. Kondensatoren (ca. 4 500 Kubikmeter Volumen) aus der Produktion des Geraer Betriebes in Anlagen der Energieerzeugung und -übertragung (Transformatoren und Wandler) sowie in elektrischen Großmaschinen installiert. (In elektrischen Haushaltgeräten aus der DDR-Produktion sind PCB-haltige Kondensatoren nicht im Einsatz.)
Darüber hinaus erfolgte die Verwendung PCB-behafteter Stoffe im VEB Carl Zeiss Jena und im VEB Kabelwerk Vacha, auch Altöle-Bestände sind teilweise PCB-verunreinigt. Ebenso enthalten einige importierte Transformatoren PCB. Erkenntnissen von Experten zufolge wird jedoch auch im internationalen Maßstab PCB in Hydraulikanlagen, als Transfermedium in geschlossenen Wärmeaustauschanlagen, als Sperrflüssigkeit in Messgeräten für chemisch aggressive Gase und als Weichmacher in der Kabelindustrie eingesetzt.
Aufgrund von Untersuchungen im Zusammenhang mit Havariefällen in kapitalistischen Ländern (insbesondere in Seveso/Italien)1 wurde bekannt, dass bei der thermischen Zersetzung von PCB bei Temperaturen, wie sie bei Bränden auftreten können, die Gefahr der Bildung hochgiftiger Verbindungen (z. B. das Seveso-Gift Dioxin und polychlorierte Dibenzofurane) besteht. Mit der Möglichkeit der Bildung hochtoxischer Stoffe muss demzufolge immer dann gerechnet werden, wenn PCB-gefüllte Kondensatoren von einem Brand erfasst werden.
Dioxine bzw. Dibenzofurane werden als toxischste aller bekannten synthetischen, chemischen Verbindungen bezeichnet und stellen z. B. eine weitaus höhere Gefährdung als die bekannten Gifte Curare, Strychnin und Cyanid dar.
(Im Zusammenhang mit dem Brand in der Transformatorenstation des VEB Spanplattenwerk Malliß, [Kreis] Ludwigslust, [Bezirk] Schwerin, am 18. April 1989 erfolgte u. a. der Nachweis des Austrittes von PCB, sodass konkrete Entsorgungsmaßnahmen getroffen werden mussten.)
Aufgrund der für Mensch und Umwelt hohen Gefährdung im Umgang mit PCB wurden durch den Vorsitzenden des Ministerrates der DDR am 6.3.1984 mit der Verfügung Nr. 54/84 Festlegungen zum Schutz der Werktätigen, zum kontrollierten Einsatz von PCB und zur schadlosen Beseitigung sowie zur Ablösung von PCB durch die Entwicklung und Herstellung geeigneter PCB-freier Mittel getroffen.2 Auf dieser Grundlage wurden Sicherheitsbestimmungen ausgearbeitet und allen Leitern der zuständigen zentralen Organe übergeben.
Eine Präzisierung der auf dieser Verfügung basierenden Sicherheitsbestimmungen erfolgte durch die vom Ministerium für Elektrotechnik und Elektronik am 31.10.1987 herausgegebene »Richtlinie zum Umgang mit PCB-Leistungskondensatoren«.3 Diese Richtlinie beinhaltet neben allgemeinen Hinweisen zum Umgang mit PCB-Leistungskondensatoren auch Sicherheitsmaßnahmen, die beim Betreiben zu beachten sind, Maßnahmen bei Havarien, hygienische Mindestanforderungen an den Umgang mit PCB-behafteten Materialien sowie Festlegungen der arbeitsmedizinischen Überwachung PCB-exponierter Werktätiger.
Die Umsetzung der 1984 vom Ministerrat der DDR getroffenen Festlegungen, insbesondere zur schadlosen Beseitigung entleerter Kondensatoren auf den Deponien Röthehof, Bezirk Potsdam und Aga, Bezirk Suhl4 sowie zur Beseitigung von PCB- und PCB-haltigen Flüssigkeiten in der Kaverne Mittenwalde erwies sich als nicht realisierbar, weil die dafür erforderliche Entleerung der Kondensatoren einen unvertretbar hohen volkswirtschaftlichen Aufwand erforderte und die Kaverne Mittenwalde sich als nicht nutzbar herausstellte.
Die im Beschluss des Präsidiums des Ministerrates der DDR vom 25.9.1985 zur Nutzungskonzeption für die Grube »Marie«,5 [Kreis] Haldensleben, [Bezirk] Magdeburg, festgelegten Untersuchungen zur Prüfung der Möglichkeit einer unterirdischen Einlagerung von PCB und PCB-haltigen Materialien hatten zum Ergebnis, dass eine Einlagerung von PCB-haltigen Flüssigkeiten in dieser Grube aus Sicherheitsgründen nicht und die Einlagerung von Kondensatoren wegen der Sicherheitsanforderungen nur mit einem sehr hohen volkswirtschaftlichen Aufwand möglich ist.
Diese Umstände haben dazu geführt, dass auf der Deponie Röthehof gegenwärtig ca. 10 000 nicht mehr betriebsfähige Kondensatoren, ca. 250 Fässer zu je 200 1 mit kontaminierten Feststoffen (Putzmittel, Sand, Bleicherde) und Leer-Fässer zwischengelagert werden. Zur Entsorgung des ehemaligen Herstellerbetriebes, VEB Isokond-Isolierstoff- und Kondensatorenwerk Berlin, konnten nur vorübergehende sichere Lösungen zur Zwischenlagerung von ca. 180 Kubikmeter PCB-kontaminierten Flüssigkeiten auf dem Territorium des ehemaligen Heizwerkes des VEB Halbleiterwerkes Frankfurt/O. geschaffen werden.
Flüssigkeiten und Feststoffe aus dem ehemaligen Herstellerbetrieb VEB Elektronik Gera lagern auf einem dafür hergerichteten Containerlagerplatz in dem Betriebsteil Gera-Pforten. Bei den Betreibern der Kondensatoren sind darüber hinaus mindestens 1,5 kt nicht mehr betriebsfähige Geräte und anderes kontaminiertes Material eingelagert. Insgesamt sind mehr als 20 kt PCB, PCB-behaftetes Material- und Havariegut in unterschiedlichen Orten in der DDR zwischengelagert.
Aus dem Verschleiß der Kondensatoren ergibt sich jährlich ein Anfall von 1,0 – 1,5 kt PCB-behaftetem Material- und Havariegut etwa bis zum Jahr 2000. In den Abfallbetrieben sind die Zwischenlagerkapazitäten zum Teil erschöpft. Insbesondere Kleinbetriebe verfügen oftmals nicht über die erforderlichen Voraussetzungen, um Ordnung und Sicherheit bei der Zwischenlagerung entsprechend den Forderungen einzuhalten, wodurch potenzielle Gefährdungen für die Werktätigen sowie die Umwelt entstehen.
Trotz vielfältiger Anstrengungen der zuständigen zentralen staatlichen Organe steht gegenwärtig eine für zentrale Zwischenlagerung geeignete Schadstoffdeponie für PCB, PCB-behaftetes Material und Havariegut nicht zur Verfügung.
Umfangreichen Untersuchungen unter Einbeziehung der Ergebnisse der unter Leitung des Ministeriums für Wissenschaft und Technik tätig gewesenen interdisziplinären Arbeitsgruppe zufolge, ist eine schadlose Beseitigung von PCB und PCB-haltigen Abfallstoffen nur durch Verbrennung in entsprechend dafür ausgelegten Sonderabfallverbrennungsanlagen möglich. (Diese Erkenntnis entspricht auch internationalen Erfahrungen auf diesem Gebiet.)
Im Bereich der chemischen Industrie der DDR bereits vorhandene Abfallverbrennungsanlagen sind für die schadlose Beseitigung von PCB, PCB-haltigem Material und Havariegut jedoch nicht geeignet, da die technischen Voraussetzungen, wie z. B. konstant hohe Verbrennungstemperaturen, Rauchgaswäsche zur Rückhaltung toxischer Stoffe und Prozessanalytik nicht vorhanden sind. Die Nutzung der in der DDR in den Produktionsprozessen der Zementindustrie, chemischen Industrie verwendeten Drehrohröfen für die PCB-Vernichtung ist nicht möglich.
Wie die geführten Untersuchungen weiter ergaben, ist weder im Bereich des Ministeriums für chemische Industrie noch im Bereich des Ministeriums für Schwermaschinen- und Anlagenbau das »Know-how« für die Errichtung einer entsprechenden Sonderabfallverbrennungsanlage – einschließlich der dazugehörigen Analytik – vorhanden. Lösungen in anderen Mitgliedsländern des RGW konnten bisher nicht ermittelt werden. (Die Verbrennung im Rahmen von Dienstleistungen durch Unternehmen im NSW wurde bisher nicht in Betracht gezogen.)
Für den Aufbau einer Sonderabfallverbrennungsanlage untersuchte Varianten ergaben folgende Möglichkeiten:
- –
Der Aufbau einer Sonderverbrennungsanlage nach dem Drehrohrofenprinzip mit einer ökonomisch vertretbaren unteren Leistungsgrenze einschließlich peripherer Analytik. Das würde einen finanziellen Aufwand in Höhe von etwa ca. 70 bis 80 Mio. VM erfordern. Mit dieser Anlage könnten 10 bis 15 kt/a Sonderabfälle, davon 1/5 als PCB bzw. PCB-kontaminierte Stoffe, vernichtet werden.
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Der Aufbau einer Kleinentsorgungsanlage nach dem Schwenkofenprinzip für ca. 3 bis 4 Mio. Schweizer Franken (kleinste Bauart ohne Montageleistungen und ohne sehr teure periphere Analytik). Die Berechnung des Valutaaufwandes für den getrennten Import der Analytik ist zzt. nicht möglich, dazu müssten entsprechende Verhandlungen geführt werden.
Weiteren Hinweisen von Experten zufolge seien jedoch auch die Standortuntersuchungen zur Errichtung einer Sonderabfallverbrennungsanlage auf der Grundlage der vom Ministerium für Gesundheitswesen ausgearbeiteten umwelthygienischen Forderungen im Industriebereich Elektrotechnik und Elektronik und im Bereich der chemischen Industrie bisher ergebnislos verlaufen.
Demzufolge wäre für die Errichtung einer Sonderabfallverbrennungsanlage ein Standort völlig neu zu erschließen.
Eine Mitte des Jahres 1988 gemeinsam von der Staatlichen Plankommission, dem Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft und dem Ministerium für Elektrotechnik/Elektronik erarbeitete Vorlage »Vorschlag zur Zwischenlagerung mit Verbrennung von polychlorierten Biphenylen (PCB)«6 sieht – ausgehend vom bisherigen Arbeitsstand – folgende Varianten zur Lösung des Problems vor:
- 1.
Verbrennung in der Abfallverbrennungsanlage bei Schöneiche, [Kreis] Zossen, [Bezirk] Potsdam (Dieser Vorschlag lässt jedoch die Beseitigung der anfallenden Reststoffe aus der Rauchgasreinigung unberücksichtigt. Bis zur Inbetriebnahme eines entsprechenden Projektes müsste also eine Übergangslösung geschaffen werden.);
- 2.
Aufbau einer weiteren Abfallverbrennungsanlage in vergleichbarem Maße wie in Schöneiche an einem noch auszuwählenden Standort (Da diese Anlage frühestens jedoch gegen Ende des Fünfjahrplanes 1991 bis 1995 errichtet werden kann, stellt sich auch dabei die Schaffung einer Zwischenlagerkapazität.);
- 3.
Aufbau einer Kleinentsorgungsanlage ausschließlich für die Verbrennung von PCB-Kondensatoren und PCB-kontaminiertem Material.
In Anbetracht der seit Mitte 1988 ausstehenden Entscheidung über das weitere Vorgehen zur schrittweisen Überwindung bestehender akuter Gefährdungen im Zusammenhang mit dem Einsatz und der schadlosen Beseitigung des PCB in der Volkswirtschaft der DDR wird es aus sicherheitspolitischer Sicht für notwendig erachtet, eine ökonomisch vertretbare Entscheidungsfindung zu beschleunigen.