Probleme von Staatsbürgerschaft und ständiger Ausreise
24. Oktober 1989
Weitere zu analysierende Probleme der Staatsbürgerschaft der DDR im Zusammenhang mit der Genehmigung der ständigen Ausreisen auf der Grundlage des Reisegesetzes [Bericht K 1/209]
1. Rechtliche Grundlagen
Bürger der DDR, die einen Antrag auf ständige Ausreise gestellt haben,1 können in diesem Zusammenhang auf der Grundlage des § 10 (1) des Staatsbürgerschaftsgesetzes Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR stellen.2
Es besteht keine rechtliche Grundlage, einen Bürger der DDR, dem die ständige Ausreise genehmigt werden wird, aus der Staatsbürgerschaft zu entlassen, soweit er das nicht selbst beantragt, bzw. ihm diese abzuerkennen, selbst wenn dafür begründete staatliche Interessen vorliegen.
Die Praxis im gegenwärtigen Bearbeitungsverfahren ging davon aus, dem Bürger der DDR bei der Vorsprache zur Antragstellung auf ständige Ausreise gleichzeitig mit der Übergabe der dafür erforderlichen Antragsformulare auch einen Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft zu übergeben, soweit als Ziel der ständigen Ausreise die BRD bzw. Westberlin angegeben wurde. Des Weiteren wurde in den Fällen, wo staatliche Interessen vorlagen, ein Antrag des Bürgers der DDR auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft in Realisierung des Politbüro-Beschlusses vom 9. November 1988 angestrebt.3
Dadurch konnte bisher erreicht werden, dass fast alle Personen, denen die ständige Ausreise nach der BRD bzw. Westberlin genehmigt wurde, nach entsprechender Antragstellung auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR aus dieser entlassen wurden, das heißt, diese Personen nicht als DDR-Bürger für ständig ausreisten.
Da diese Personen damit Ausländer wurden, erhielt die DDR die Möglichkeit, bei Vorliegen der erforderlichen Gründe die entsprechenden Reisesperrmaßnahmen durchzusetzen.
Soweit ständige Ausreisen nach anderen nichtsozialistischen Staaten erfolgten, wurde die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR nicht angestrebt. Die betreffenden DDR-Bürger konnten nach Registrierung in der jeweiligen Auslandsvertretung der DDR zum besuchsweisen bzw. touristischen Aufenthalt wieder in die DDR einreisen.
Unmittelbar nach Inkrafttreten des Reisegesetzes wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem weiteren Anstieg der Antragsteller auf ständige Ausreisen kommen.4 Dabei kann davon ausgegangen werden, dass ein erheblicher Teil dieser Antragsteller in konkreter Kenntnis der Regelung des Staatsbürgerschaftsgesetzes und des Reisegesetzes dann von sich aus keinen Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR mehr stellen wird, um sich die »jederzeitige Einreise in die DDR« (siehe § 2 des Reisegesetzes) zu sichern, weniger, um Bürger unseres Staates aus politischen Erwägungen heraus zu bleiben.
Das wird zu einem neuen Potenzial von Bürgern der DDR mit Wohnsitz in der BRD und Westberlin in einer solchen Größenordnung führen, das auf die DDR und besonders bei Einreise dieser Personen in die DDR beeinträchtigende Wirkungen auf die Gewährleistung der staatlichen Sicherheit sowie der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, auf die weitere politische Stabilisierung im ganzen Land, besonders aber auch in der Hauptstadt der DDR, Berlin, haben wird.
2. Auswirkungen auf die innere Lage in der DDR im Zusammenhang mit Einreisen dieses Personenkreises
Diese Personen könnten nach ihrer ständigen Ausreise jederzeit unter Vorlage ihres Reisepasses der DDR wieder in die DDR einreisen, wo sie unkontrollierbar völlige Bewegungsfreiheit hätten.
Entsprechend völkerrechtlichen Grundsätzen haben eigene Staatsbürger jederzeit das Recht, in ihr Heimatland einzureisen. Daraus ergibt sich, dass Bürger der DDR, die für ständig nach der BRD bzw. Westberlin ausreisten, jederzeit wieder besuchsweise bzw. aus touristischen Gründen in die DDR einreisen können.
Die Einreise dieser Personen würde ohne Entrichtung des verbindlichen Mindestumtausches5 und ohne Erhebung von Visagebühren erfolgen.
Die Wiedereinreise dieser Personen, die in der Regel mit der DDR politisch gebrochen haben, vor ihrer Ausreise häufig mit entsprechenden Aktivitäten bis hin zu kriminellen Handlungen in Erscheinung getreten sind und durch ihre diesbezügliche Haltung und Handlungen auch von den progressiven Bürgern in der DDR konsequent abgelehnt werden,6 mit denen sie also politisch im Prinzip ebenfalls gebrochen haben, in die DDR würde zu einer beträchtlichen Belastung des gesamten öffentlichen Lebens in der DDR, zu einem permanenten Anstieg des Schmuggels und der Spekulation mit Zahlungsmitteln in Mark der DDR, insbesondere unter Ausnutzung des Schwindelkurses,7 und zu erheblichen Gefahren für die öffentliche Ordnung und Sicherheit – insbesondere in Ballungsgebieten – führen.
Besonders die missbräuchliche Einfuhr und Nutzung von auf der Grundlage des Schwindelkurses erworbener Zahlungsmittel in Mark der DDR würde diesen Personen Möglichkeiten einräumen, die kaum ehrlich arbeitende Bürger der DDR hätten.
Die beträchtlichen Belastungen des öffentlichen Lebens würden sich u. a. ergeben im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme von Waren aller Art sowie Dienstleistungen, insbesondere auch der missbräuchlichen Inanspruchnahme/Ausnutzung der entsprechenden Subventionen des Staates.
Erscheinungen der Korruption – insbesondere im Dienstleistungssektor, aber auch in anderen Bereichen (Kunst und Kultur) – durch den Einsatz von DM und anderen freikonvertierbaren Währungen würden, zum ausschließlichen Nachteil der Bürger der DDR, ein noch nicht absehbares Ausmaß annehmen.
Im Zusammenhang mit Wiederein- und Wiederausreisen solcher Personen – die zum überwiegenden Teil ihres eigenen Vorteils wegen als »Pendler« oder »Wanderer« zwischen den zwei Gesellschaftsordnungen zu betrachten sind – werden Erscheinungen des Schmuggels und der Spekulation mit Zahlungsmitteln in Mark der DDR unter Ausnutzung des Schwindelkurses sowohl in der Einfuhr als auch in der Ausfuhr ein beträchtliches Ausmaß annehmen. Die damit verbundenen möglichen Auswirkungen auf die Währungsstabilität der Mark der DDR sind nicht absehbar.
Gefahren für die öffentliche Ordnung und Sicherheit würden sich insbesondere auch ergeben durch einen absehbaren Anstieg von Erscheinungen der Kriminalität, asozialer Lebensweisen, möglicher Zusammenschlüsse und Zusammenrottungen, einschließlich des Zusammenwirkens mit inneren feindlichen, oppositionellen Kräften, Initiierung und Inspirierung feindlich-negativer Aktivitäten in der Öffentlichkeit.
Erhebliche gesamtgesellschaftliche Probleme würden sich insbesondere im Zusammenhang mit dem breiten Spektrum der negativen politisch-ideologischen Wirkungen und Folgeerscheinungen ergeben.
Breite Kreise der Bevölkerung, insbesondere progressive, ehrlich zu unserem Staat stehende, gesellschaftlich engagierte Bürger, würden völliges politisches Unverständnis und eine konsequent ablehnende Haltung zu einer derartigen Entscheidung und Praxis zum Ausdruck bringen. Dazu würden beträchtliche negative Wirkungen auf die weitere politische Haltung und Tätigkeit dieser politisch bewussten und progressiven Bürger der DDR ausgehen, z. B. auch hinsichtlich der Schaffung von Werten/Leistungen, deren Nutznießer – vom Staat eingeräumt – diese sogenannten DDR-Bürger dann würden.
Diese negativen Wirkungen würden besonders konkret im ehemaligen sozialen Umfeld solcher Personen (Arbeits-, Wohn- und Freizeitbereich, Freundes- und Bekanntenkreis) auftreten; Sogwirkungen und Nachahmungen durch Antragstellung auf ständige Ausreise würden zunehmen. Vor allem politisch schwankende, zögernde Bürger (maßgeblich unter jüngeren Bürgern) würden »bestärkt« bezüglich der Anerkennung der Richtigkeit der Handlungsweise dieser Personen.
Potenziert würden die negativen Wirkungen u. a. dadurch, dass insbesondere jene Personen, die unseren Staat in den letzten Wochen verlassen haben, durch ihre Wiedereinreise den bei uns in Gang gesetzten Prozess des Dialogs über alle Fragen, die die Entwicklung unserer Gesellschaft, des Sozialismus in unserem Land betreffen, in vielfältiger Weise beeinträchtigen könnten.
Gestattung der Wiedereinreise dieser Personen, die uns als dringend benötigte Arbeitskräfte verloren gegangen sind und in vielen gesellschaftlichen Bereichen zu gegenwärtig nicht zu schließenden Lücken führten, würde als Hohn empfunden. Hinzu käme, dass diese Personen gegenüber jenen, die in zurückliegender Zeit nach Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR für ständig ausgereist sind, ungerechtfertigt bevorteilt würden.
Des Weiteren wären im Zusammenhang mit ständigen Ausreisen von DDR-Bürgern ohne deren Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR folgende Fragen und Probleme hinsichtlich der sich daraus ergebenden Konsequenzen weiter zu untersuchen und zu durchdenken:
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Einbeziehung von Bürgern der DDR mit ständigem Wohnsitz im nichtsozialistischen Ausland in die Regelungen des verbindlichen Mindestumtausches;
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vermögensrechtliche Fragen, unter anderem Möglichkeiten der Besitzerhaltung und Weiternutzung von Wochenendgrundstücken (z. B. durch in Westberlin bzw. in grenznahen Gebieten der BRD wohnhafte DDR-Bürger);
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Überlegungen im Hinblick auf den künftigen »Status« dieser Bürger, z. B. bezüglich auf die Gewährleistung des Rechtsschutzes, die konsularische Betreuung, das Wahlrecht dieser Personen; Fragen der doppelten Staatsbürgerschaft u. a.
3. Schlussfolgerungen
Es sollte weiterhin von den Festlegungen im Beschluss des Politbüros des ZK der SED vom 9. November 1988 ausgegangen werden, dass bei Personen, deren künftige Einreise in die DDR nicht im staatlichen Interesse liegt, die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR angestrebt wird, sofern diese Personen für ständig nach der BRD bzw. Westberlin ausreisen.
Gleichzeitig sollten im Entwurf des Gesetzes über Reisen von Bürgern der DDR in das Ausland eindeutige Regelungen aufgenommen werden, dass die Erteilung der Genehmigung zur ständigen Ausreise in der Regel mit einem Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR verbunden wird. Dazu sollte die bestehende Arbeitsgruppe kurzfristig Lösungsvorschläge unterbreiten.
Zur Bekräftigung dessen, dass auch solche Personen, die aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen wurden (also Ausländer sind), wieder in die DDR einreisen können – sofern im Einzelfall dem keine schwerwiegenden Gründe entgegenstehen –, sollte zu einem geeigneten Zeitpunkt eine entsprechende öffentliche Erklärung abgegeben werden.