Reaktion auf die Ablehnung des »Neuen Forums«
2. Oktober 1989
Information Nr. 434/89 über weitere beachtenswerte Reaktionen von Antragstellern auf die Ablehnung der Anmeldung der Vereinigung »Neues Forum« und über die Fortsetzung von Aktivitäten zur Formierung dieser oppositionellen Sammlungsbewegung
Nach dem MfS vorliegenden streng internen Hinweisen erklärten die Erstunterzeichner des Gründungsaufrufes mehrheitlich, ihre Aktivitäten zur Formierung des »Neuen Forums« fortzusetzen.1
Unter Bezugnahme auf die gegenwärtige politische Situation und auf die angebliche Resonanz bei unterschiedlichsten Bevölkerungskreisen in der DDR auf den Gründungsaufruf des »Neuen Forums« spekulieren sie darauf, dass bei Weiterführung entsprechender Aktivitäten keine strafrechtlichen Maßnahmen gegen die Initiatoren eingeleitet würden, da dies ihrer Meinung nach eine »breite Protestwelle« in der DDR und im Ausland zur Folge hätte.
Sie lassen die Absicht erkennen, ihre Kontakte zu sozialismusfeindlichen Kräften im westlichen Ausland und zu westlichen Korrespondenten auch im Interesse des Schutzes ihrer Person weiter zu intensivieren.
Obwohl ihnen rechtliche Schritte gegen die Ablehnung der Anmeldung versagt würden, ziehen sie in Abhängigkeit vom Zeitpunkt der Fertigstellung eines Programms und eines Statuts sowie vom weiteren Zustrom an Sympathisanten eine erneute Anmeldung der Vereinigung in Betracht.
In Anpassung an die nach der Ablehnung entstandene Lage soll – den Vorstellungen der Initiatoren/Organisatoren zufolge – die Arbeit des »Neuen Forums« als Bürgerinitiative weitergeführt werden.
Gegenwärtig konzentrieren sich die Inspiratoren/Organisatoren des »Neuen Forums« auf die Erarbeitung und Diskussion eines sogenannten Problemkataloges für gesellschaftliche Veränderungen in der DDR.2
Er soll insbesondere »Lösungsvarianten« in den Bereichen Wirtschaft und Ökologie (Strategische Änderungen in der Wirtschaftsführung; Teilnahme der Werktätigen an der Lenkung der Wirtschaft; Reduzierung der Umweltbelastungen; Beseitigung des Missverhältnisses zwischen Preis und Leistung), Wissenschaft, Kultur und Geistesleben sowie Staat (Schaffung Rechtsstaat; Reform des Wahlrechtes, uneingeschränkte Gewährleistung der Grundrechte; uneingeschränkte Freizügigkeit im Reiseverkehr) enthalten.
Darüber hinaus wird erwogen, anstelle von listenmäßigen Unterschriftensammlungen sogenannte Willenserklärungen zur Legalisierung des »Neuen Forums« zu organisieren. Als Sprecher wurden die hinlänglich bekannten Personen Bärbel Bohley,3 Hans-Jochen Tschiche,4 Michael Arnold,5 Rolf-Rüdiger Henrich,6 Jens Reich7 und Martin Klähn8 benannt.
Die Propagierung der Ziele und Inhalte des »Neuen Forums« wird – wie bereits in der Information des MfS Nr. 427/89 vom 26. September 1989 eingeschätzt – durch Initiatoren/Organisatoren und Sympathisanten, insbesondere durch kirchliche Amtsträger und weitere in kirchlichen Einrichtungen tätige Personen zielstrebig fortgeführt.
Hauptmethoden sind dabei nach wie vor das Verlesen, Auslegen und die Kommentierung des Gründungsaufrufes im Rahmen von kirchlichen Veranstaltungen, teilweise verbunden mit Unterschriftensammlungen, seine Erörterung auf Zusammenkünften kirchenleitender Gremien in den Bereichen der evangelischen Landeskirchen sowie auf regionalen und überregionalen Treffen sogenannter kirchlicher Basisgruppen.9
In Einzelfällen werden dabei an zentrale und territoriale staatliche Organe adressierte Protestresolutionen gegen die Ablehnung der Anmeldung der Vereinigung »Neues Forum« initiiert. Wiederholt nutzten hinlänglich bekannte reaktionäre kirchliche Kräfte den Gründungsaufruf als Ausgangspunkt für die Erarbeitung und Propagierung eigener Pamphlete, die sich gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung richten.
So verfasste Pfarrer Winkelmann,10 Bischofrod, [Kreis] Suhl, (Leiter des Evangelischen Einkehrhauses Bischofrod,11 Mitglied des Fortsetzungsausschusses »Konkret für den Frieden«;12 unterhält enge Kontakte zum SPD-Bundestagsabgeordneten Horst Sielaff13) in Vorbereitung eines kirchlichen Basisgruppentreffens der Region Thüringen (30. September 1989) ein Pamphlet, in dem die Schaffung eines »demokratischen, pluralistischen und entwicklungsfähigen Sozialismus« verlangt und die Partei- und Staatsführung aufgefordert wird, zur »Wahrheit und zu Demokratie« zurückzukehren.14
Gleichzeitig werden »alle Bürger unseres Landes« aufgerufen,
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»die öffentliche Lüge nicht mehr mitzuspielen und die notwendigen Fragen zu stellen« sowie
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»die demokratischen Grundrechte sich nicht länger vorenthalten zu lassen, sondern sie soweit wie möglich schon zu praktizieren«.
Erheblich zugenommen haben Solidarisierungsbekundungen von Kunst- und Kulturschaffenden für das »Neue Forum« bzw. für die bekannte »Resolution« der Unterhaltungskünstler15 sowie von diesem Personenkreis ausgehende Aktivitäten zu deren Propagierung. Eine besondere Rolle spielen dabei bestimmte Personenkreise in einigen Bezirksvorständen des Verbandes Bildender Künstler sowie Liedermacher und andere Vertreter der Unterhaltungskunst. So verlas der Vorsitzende des Bezirksvorstandes des Verbandes Bildender Künstler Dresden auf einer Sekretariatssitzung des Vorstandes am 27. September 1989 den Gründungsaufruf des »Neuen Forums« und die »Resolution« der Unterhaltungskünstler. Er äußerte die Absicht, diese Materialien zu vervielfältigen und zu verbreiten.
Auf einer Beratung des Bezirksvorstandes des Verbandes Bildender Künstler Rostock am 27. September 1989 initiierte ein namentlich bekannter Teilnehmer eine Diskussion zur gegenwärtigen Situation in der DDR, verbunden mit der Abfassung einer Resolution. Darin wird die Partei- und Staatsführung u. a. aufgefordert, den »offenen politischen Dialog mit allen politischen Kräften unseres Landes« zu führen. Die Tätigkeit des »Neuen Forums« wird »ausdrücklich begrüßt«. (Die Resolution wurde mit 22 Ja-Stimmen bei fünf Gegenstimmen verabschiedet.) Alle Teilnehmer der Beratung erhielten durch Verlesen Kenntnis vom Gründungsaufruf des »Neuen Forums« und von der »Resolution« der Unterhaltungskünstler.
Auf der am 25. September durchgeführten erweiterten Sitzung der Sektionsleitung Rockmusik sowie Lied und Kleinkunst des Komitees für Unterhaltungskunst der DDR beschlossen die Teilnehmer trotz der versuchten Einflussnahme des Generaldirektors des Komitees, die »Resolution« der Unterhaltungskünstler auch weiterhin auf öffentlichen Veranstaltungen zu verlesen. Entsprechend dieser Orientierung nutzten Mitglieder der Rockgruppen »Die Zöllner«, »Notentritt«, »Pankow« und »Silly« sowie die Liedermacher Wenzel,16 Mensching,17 Eger,18 Schmidt,19 Riedel20 und Halbhuber21 erneut öffentliche Auftritte zur Verlesung der Resolution, teilweise entgegen erteilter Auflagen durch den Veranstalter (Kultur- und Freizeitzentrum Erfurt).
Besonders beachtenswert sind Feststellungen über Sympathiebekundungen für das »Neue Forum« bzw. für die »Resolution« der Unterhaltungskünstler unter im künstlerischen Bereich des Staatlichen Komitees für Rundfunk der DDR tätigen Mitarbeitern.
So wandten sich die Gewerkschaftsgruppen Produktion bei Jugendradio DT 6422 und Sinfonieorchester des Rundfunks der DDR sowie die Parteigruppe Musik bei Jugendradio DT 64 mit Resolutionen/Erklärungen an ihre Partei- bzw. Gewerkschaftsleitungen, in denen u. a. Zustimmung zum »basisdemokratischen Wirksamwerden von DDR-Bürgern« geäußert und Forderungen nach »offener Diskussion« über Probleme und Widersprüche in der Gesellschaft und nach »Überwindung der chronischen Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und politischen Erklärungen« erhoben werden.
Die Gewerkschaftsgruppe Künstlerisches Personal und Vertrauensleute des Deutschen Theaters, Berlin, verabschiedete auf einer Gewerkschaftsversammlung am 26. September 1989 einen an den Vorsitzenden des Ministerrates der DDR gerichteten »offenen Brief«, in dem unter Bezugnahme auf die Ausreiseproblematik23 und Erscheinungen der »inneren Emigration« gefordert wird, die »Massenmedien in unserem Land für das Gespräch über unser Land« zu öffnen und »die Gedanken von Neues Forum und Anderen« zu veröffentlichen.24
Im Zusammenhang mit der anhaltenden massiven Hetz- und Verleumdungskampagne westlicher Medien kam es erneut zu Vorkommnissen in Form des Anbringens von Hetzlosungen/Verbreitens von Hetzblättern sowie von provokatorisch-demonstrativen Aktivitäten mit direkter Bezugnahme auf das »Neue Forum«.
Im Ergebnis von Prüfungshandlungen wurden in einer Reihe von Fällen strafrechtliche und andere rechtliche Maßnahmen durchgeführt.