Reaktion der Bevölkerung auf 10. Tagung der Volkskammer
30. Oktober 1989
Weitere Hinweise auf die Reaktion der Bevölkerung zur 10. Tagung der Volkskammer der DDR sowie zu weiteren aktuellen Aspekten der Lage [Bericht O/231]
Vorliegenden umfangreichen Hinweisen zufolge gibt es unter der Bevölkerung ein breites, differenziertes Spektrum von zustimmenden bis hin zu skeptischen und ablehnenden Meinungen zu den Ergebnissen der 10. Tagung der Volkskammer der DDR.1
Die Wahl des Genossen Krenz2 zum Vorsitzenden des Staatsrates der DDR und Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates findet vor allem unter progressiven Kräften Zustimmung und Unterstützung.
Mitglieder der Volkskammerfraktionen der befreundeten Parteien werteten das Vorgehen des Generalsekretärs des ZK der SED in Vorbereitung auf diese Tagung als Zeichen eines neuen Führungsstils. Hervorgehoben wird die zuvor erfolgte Übergabe seines Redetextes an die Parteivorsitzenden und die erfolgte Aufnahme mehrerer von den Fraktionen unterbreiteter Vorschläge in seine Rede sowie die durchgeführte Beratung mit den Fraktionsvorsitzenden vor Beginn der Tagung.3
In vielen Diskussionen unterschiedlichster Bevölkerungskreise wurde jedoch die Konzentration aller Spitzenfunktionen der Partei und des Staates auf eine Person abgelehnt. Erneut wurden die schon bei der Wahl des Genossen Krenz zum Generalsekretär des ZK der SED gegenüber seiner Person zum Ausdruck gebrachten Vorbehalte wiederholt.
Vor allem Angehörige der Intelligenz, Mitglieder und Funktionäre von befreundeten Parteien, Studenten sowie Wissenschaftler in Lehre und Forschung vertreten die Auffassung, eine erneute Konzentration der wichtigsten Führungspositionen in der Hand des Generalsekretärs des ZK der SED stehe im Widerspruch zu ihrem Demokratieverständnis. Für den Erneuerungsprozess wäre es glaubhafter gewesen, wenn von den befreundeten Parteien Gegenkandidaten aufgestellt worden wären und eine in diesem Sinne demokratische Wahl stattgefunden hätte. Eine »Ämterteilung« hätte auch der ihrer Meinung nach dringend erforderlichen Durchsetzung der Abgrenzung von Aufgaben und Verantwortlichkeiten zwischen Partei und Staat besser entsprochen.
Ihrer Meinung nach wäre der Vorsitzende der LDPD, Prof. Dr. Gerlach,4 ein geeigneter Gegenkandidat für das Amt des Staatsratsvorsitzenden gewesen und hätte sicher auch breite Zustimmung und Unterstützung gefunden.
Die Tatsache, dass sich erstmalig Abgeordnete der Volkskammer bei diesen Wahlen der Stimme enthielten bzw. gegen den Wahlvorschlag der SED stimmten, wird nahezu übereinstimmend als ein Ausdruck sich vollziehender Veränderungen, als ein äußeres Zeichen des Umdenkens auch in Fragen der sozialistischen Demokratie bewertet.
Die Erklärung des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Genossen Krenz, vor der Volkskammer fand unter breitesten Bevölkerungskreisen ungeteiltes Interesse, wird jedoch sehr differenziert bewertet.
Vor allem progressive Kräfte geben dieser Erklärung ihre Unterstützung. Es seien, so schätzen sie ein, die brennendsten, die Werktätigen bewegenden Fragen in der gegenwärtigen Lage sachlich und offen aufgezeigt und erste Vorstellungen zum Herangehen an ihre Lösung entwickelt worden. Das wird als Beweis für die Ernsthaftigkeit der durch die SED eingeleiteten politischen Wende angesehen.
Ausdrückliche Zustimmung findet, dass Genosse Krenz in seiner Erklärung vor der Volkskammer der DDR keinen Zweifel an den Machtverhältnissen in der DDR habe aufkommen lassen.
Jetzt werden baldige zentrale Entscheidungen und Orientierungen zu den angesprochenen Problemen erwartet, wobei vor allem genannt werden die Reiseproblematik, die Arbeit der Volksvertretungen, die Gestaltung der Zusammenarbeit mit den befreundeten Parteien sowie die Erhöhung der Eigenständigkeit und Verantwortung der Territorien und Betriebe und die Wiederherstellung der Rolle der Gewerkschaften als Interessenvertreter der Werktätigen.
Insbesondere von Mitgliedern und Funktionären befreundeter Parteien, von Studenten, Schülern, Mitarbeitern verschiedener wissenschaftlicher und medizinischer Einrichtungen sowie Personen aus dem Bereich Kunst und Kultur werden in diesem Zusammenhang immer wieder Forderungen nach Änderung des Wahlgesetzes, nach freien Wahlen und voller Gleichberechtigung der befreundeten Parteien erhoben.
Genannte Personenkreise äußern dabei viele Vorbehalte gegen die führende Rolle der SED. Sie lehnen sie in der Regel nicht generell ab, vertreten jedoch den Standpunkt, dass ihre Umsetzung qualitativ neue Anforderungen an die SED stelle, weil sie das Vertrauen der Bevölkerung verloren habe. In der DDR müssten – so ihre Meinung – »freie Wahlen« durchgeführt werden, bei denen sich die Partei mit dem besten Programm durchsetzt. Solle doch das Volk über die führende Rolle einer Partei befinden.
Gesichert werden müsse dabei die volle Gleichberechtigung der befreundeten Parteien in der DDR, ihr wirkliches Mitspracherecht bei der Vorbereitung, Diskussion und Durchsetzung von gesetzlichen Bestimmungen und Beschlüssen der Volksvertretungen auf allen Ebenen. Sie müssten viel souveräner in ihrem Auftreten gegenüber der SED werden, ihre politischen Positionen festigen und – wenn es angebracht ist – auch gegen Entscheidungen der SED auftreten.
Überwiegend positiv bewertet wird die Wende in unserer Medienpolitik, wobei dennoch vor allem von älteren Mitgliedern der SED vor der Gefahr gewarnt wird, in eine endlose Fehlerdiskussion zu verfallen und Erreichtes generell in Frage zu stellen.
Skeptische Haltungen werden verbreitet den in Aussicht gestellten gesetzlich neu geregelten Reisemöglichkeiten nach dem nichtsozialistischen Ausland entgegengebracht.
In Zweifel gestellt wird, dass jedem Bürger die volle Reisefreiheit gewährt wird. Scheitern würde dies vor allem deshalb, weil die dafür erforderlichen konvertierbaren Währungen aus rein wirtschaftlichen Gründen nur im begrenzten Umfang zur Verfügung stehen.
Im Vorteil seien deshalb wieder die Bürger, die aufgrund verwandtschaftlicher Beziehungen oder des Besitzes entsprechender Devisen sich derartige Reisen leisten können.
Es sei deshalb angebracht, sich keine allzu großen Hoffnungen auf eine grundsätzliche Verbesserung der Reisemöglichkeiten zu machen.
Zustimmung und Unterstützung findet die in der Erklärung des Staatsratsvorsitzenden enthaltene Aussage, der Dialog mit allen Werktätigen und Bürgern werde ein notwendiger und ständiger Teil unserer politischen Kultur sein und bleiben.
Begrüßt wird die Diskussionsbereitschaft von Mitgliedern des ZK der SED, insbesondere aber von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, mit allen Bevölkerungsschichten. Anerkannt wird auch, dass sich einige Mitglieder des Politbüros des ZK der SED und 1. Sekretäre von Bezirksleitungen der SED den Fragen der Werktätigen in den Betrieben und auf Foren offen und freimütig stellen. Dabei erkenne man in der Regel sehr schnell, so wird geäußert, wer von ihnen wirklich »reformfähig« und damit vertrauenswürdig sei.
In diesbezüglichen Diskussionen in Arbeits-, Partei- und Gewerkschaftskollektiven werden häufig Bezüge zur Situation im eigenen Verantwortungsbereich und Territorium hergestellt und Probleme, Missstände, u. a. auch Kaderfragen, angesprochen. Dabei wird verbreitet die nachdrückliche Forderung erhoben, in den Dialog jetzt noch stärker die verantwortlichen Leiter und Funktionäre in den Kombinaten/Betrieben und Territorien einzubeziehen, um die Probleme konkret ansprechen und kurzfristig machbare Veränderungen einleiten zu können.
Dabei werden aber nach wie vor in beachtlichem Umfang Vorbehalte und Skepsis zum Ausdruck gebracht, die vor allem mit der empfundenen Unglaubwürdigkeit vieler Funktionäre von Partei, Staat und Gewerkschaft auf zentraler bis hin zur Kreisebene begründet werden. Sich in diesem Sinne äußernde Personen, darunter auch Mitglieder der SED u. a. progressive Kräfte, vertreten den Standpunkt, die in den letzten Tagen offen angesprochenen Problem seien an der Basis, unter den Arbeitern, schon seit Langem diskutiert worden. Dafür, dass sie nicht genauso kritisch in der Öffentlichkeit bzw. der übergeordneten Leitungsebene angesprochen worden sind, trügen diese auftretenden Partei- und Staatsfunktionäre maßgebliche Verantwortung. Es sei erstaunlich und unglaubhaft, wie viele Funktionäre plötzlich umschwenkten, sich für Veränderungen aussprechen und gleichzeitig so tun, als hätten sie schon immer »für die Wahrheit gekämpft«.
Im Zusammenhang mit derartigen Feststellungen werden von breiten Bevölkerungskreisen mit Nachdruck weitere Kaderveränderungen im Politbüro des ZK, aber auch auf Ebene der Bezirks- und Kreisleitungen der SED gefordert.
Wiederholt werden entsprechende Kaderveränderungen als Prüfstein für die Glaubwürdigkeit der Einleitung einer Wende in der Politik der Partei bezeichnet.
Grundtenor diesbezüglicher Meinungsäußerungen ist die Auffassung, mit der alten Parteiführung könne keine neue Politik gemacht werden. Es wirke auf die Werktätigen unglaubwürdig, wenn sich diese Genossen heute zu Veränderungen und Reformen bekennen, nachdem sie jahrelang eine ablehnende Haltung dazu bezogen hätten. Das erwecke bei vielen Menschen, so schätzen progressive Kräfte ein, den Anschein, als »hängten sie ihren Mantel nach dem Wind«, um auf ihre Privilegien nicht verzichten zu müssen.
Nahezu übereinstimmend werden dabei genannt die Genossen Hager5 und Tisch.6 In jüngster Zeit bezieht sich das auch auf die Genossen Neumann7 (unter Hinweis auf sein Auftreten in Berliner Betrieben)8 und Stoph9 (Fernsehgespräch).10
Begründet wird die Forderung nach Ablösung des Genossen Tisch damit, dass aus seinen Äußerungen zu schließen sei, er wolle jetzt alle von den Werktätigen zur Sprache gebrachten Probleme auf die Betriebe abwälzen und selbst keine Verantwortung dafür übernehmen. Besondere Empörung riefen seine Äußerungen zu erfolgten Überspitzungen in der Plandiskussion und den Verpflichtungen zu zusätzlichen Leistungen in Vorbereitung des XII. Parteitages der SED11 hervor. Von Arbeitern und Gewerkschaftsfunktionären wurde unterstrichen, dass die entsprechenden Orientierungen dazu ausnahmslos auf von dem Genossen Tisch mit zu verantwortenden Beschlüssen des Bundesvorstandes des FDGB basieren. Diese Form des Abwälzens von Verantwortung auf die Betriebsgewerkschaften und die vom Genossen Tisch gemachten Äußerungen, nun auch den Betriebsgewerkschaftsfunktionären und -gruppen die Verantwortung für die dadurch in den Betrieben eingetretenen Schwierigkeiten anzulasten, wird als eine Anmaßung angesehen, gegen die man sich entschieden verwahre.
Vorliegenden Einzelhinweisen aus der Hauptstadt und Bezirken der DDR zufolge kündigten Werktätige an, ihrer Forderung – wenn notwendig – auch mit Streiks Nachdruck verleihen zu wollen, wenn nicht kurzfristig die Ablösung des Genossen Tisch erfolge.
Mit unverhohlener Unzufriedenheit äußern sich vor allem Arbeiter aus Kombinaten und Betrieben über die Arbeit des FDGB. Dabei treffen sie die Feststellung, dass der FDGB heute kein Interessenvertreter der Arbeiter mehr sei, sondern sich zum Instrument der Betriebsleitung entwickelt habe, um deren Vorstellungen und Entscheidungen mit durchzusetzen.
Massive Kritik wird an der Arbeit der Kreisvorstände des FDGB geübt, deren Mitarbeiter häufig die Verbindung zu den Werktätigen verloren hätten. Sie hätten bisher, so äußern sich Arbeiter, nur hinter ihren Schreibtischen gesessen und auf schöngefärbte Berichte gewartet.
Der FDGB sei ihrer Meinung nach von der politischen Entwicklung in der DDR überrascht worden. Mit dem vom Genossen Tisch demonstrierten »nahtlosen Übergang« würden die angestauten Probleme lediglich kaschiert, aber nicht gelöst werden.
Es gibt in diesem Zusammenhang besonders beachtenswerte Einzelhinweise auf Vorhaben und Absichtserklärungen zur Gründung einer »unabhängigen Gewerkschaft« in Betrieben.
Von den Werktätigen wird darüber hinaus eine Vielzahl von Problemen in den Kombinaten und Betrieben angesprochen, deren Lösung zum Teil kurzfristig erwartet wird:
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Konsequente Durchsetzung des Leistungsprinzips auf allen Ebenen, vielfach verbunden mit Forderungen nach Neugestaltung der Lohn- und Gehaltsstrukturen (bilden den absoluten Schwerpunkt der Diskussionen hinsichtlich Umfang und Intensität)
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Konkretere und bedarfsorientiertere Ausgestaltung der Marktforschung, auf deren Grundlage entsprechende Auflagen zur Produktion von Waren an die Betriebe erteilt werden
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Reduzierung der Produktion von materialintensiven Produkten, stärkere Nutzung des wissenschaftlich-technischen Potenzials dabei
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Rationalisierung/strikte Reduzierung des Verwaltungsapparates (Rückführung von Arbeitskräften in die Produktion) – wird bezogen auf Betriebe, Leitungen der Partei, Gewerkschaft und gesellschaftliche Organisationen
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Auslastung der Arbeitszeit konkret und abrechenbar gestalten
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Überwindung einer gewissen Anonymität in den Entscheidungsprozessen, insbesondere Entscheidungen »vom grünen Tisch« müssen der Vergangenheit angehören.
Insbesondere aus den Bezirken Karl-Marx-Stadt, Erfurt, Rostock und Gera vorliegenden Hinweisen zufolge üben vor allem Arbeiter aus Großbetrieben in massiver Form Kritik an der unzureichenden Bereitschaft von Partei- und Staatsfunktionären auf Bezirks- und Kreisebene sowie von Vertretern wirtschaftsleitender Organe, sich den Fragen der Werktätigen zu stellen. Stattfindende Gespräche würden nicht mit der von ihnen erwarteten Konkretheit geführt.
Vielfach wird von Arbeitern in diesem Zusammenhang nachdrücklich die Forderung nach entsprechenden Initiativen seitens der Partei- bzw. staatlichen Leitung, zunehmend aber auch nach Aktivitäten der Gewerkschaftsorganisation, erhoben.
So wird in erregten, zum Teil heftigen Diskussionen in Kollektiven von Großbetrieben des Bezirkes Karl-Marx-Stadt von den Werktätigen die Frage gestellt, ob die Leiter und Funktionäre die Forderungen des Generalsekretärs nicht begriffen hätten. In ihren Betrieben laufe alles im »alten Trott«. Kein Funktionär oder Leiter stelle sich den Kollektiven zur Diskussion.
Darüber hinaus fordern sie kategorisch die Absetzung bzw. Bestrafung von Personen, die ihrer Verantwortung nicht gerecht wurden.
Generell feststellbar ist ein äußerst sensibles Reagieren breitester Kreise der Bevölkerung auf das Auftreten und Vorleben von Partei- und Staatsfunktionären auf zentraler bis hin zur Kreisebene feststellbar.
Ein Schwerpunkt in diesen Diskussionen der Werktätigen sind in massiv kritischer Form stark emotional geprägte, zum Teil auch sarkastisch vorgetragene Meinungen über Privilegien von Partei- und Staatsfunktionären auf allen Ebenen. Dabei wird verwiesen auf
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ein »Verschleudern« von in der Volkswirtschaft dringend benötigten Devisen für den Kauf von Pkw westlicher Produktion
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die Verwendung von Unsummen für den Bau und die Ausstattung von Wohn- und Ferienhäusern in landschaftlich attraktiven Gegenden und die damit verbundene Sperrung dieser Gebiete für die Bevölkerung
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Einkaufsmöglichkeiten in Sonderverkaufsstellen
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die Übertragung dieser Privilegien auf Kinder und Enkel
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personengebundene Jagdgebiete und Sonderobjekte
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die kostenlose Versorgung von Familienangehörigen von Nomenklaturkadern in Gästehäusern an den Wochenenden und zu Feiertagen.
Von den Werktätigen wird in diesem Zusammenhang nachdrücklich gefordert, diese Privilegien umgehend zu beseitigen. Dadurch freigesetzte Valutamittel sollten ihrer Meinung nach für die Finanzierung der erwarteten Reisemöglichkeiten der DDR-Bürger verwandt werden.
Einen Schwerpunkt zahlreicher Diskussionen mit sehr unterschiedlichen Standpunkten bilden die in allen Bezirken und der Hauptstadt der DDR stattfindenden Demonstrationen.
Eine Vielzahl progressiver Kräfte, klassenbewusste Arbeiter und Genossenschaftsbauern betrachten mit großer Sorge und Beunruhigung die ständig wachsende Teilnehmerzahl von Demonstranten und die damit verbundenen Gefahren für die öffentliche Ordnung und Sicherheit.
Ständig wiederkehrendes Argument in diesbezüglichen Meinungsäußerungen ist, dass die Straße der ungeeignetste Ort für eine Diskussion der angestauten Probleme sei. Weitere Demonstrationen werden als hinderlich für den Übergang zum konkreten Handeln bezeichnet. Den Organisatoren und Sympathisanten derartiger Aktionen sollte das auch unter Einbeziehung der DDR-Massenmedien deutlicher als bisher gesagt werden. Die auch jetzt noch anhaltenden Demonstrationen würden doch nur organisiert, um den Druck auf die Partei- und Staatsführung weiter zu verstärken.
Im Gegensatz dazu vertreten u. a. Angehörige der Intelligenz, Studenten, Jugendliche, in breiter gewordenem Umfang, aber auch Arbeiter Auffassungen, wonach die Partei- und Staatsführung lediglich durch den »Druck von unten«, der von den Massenfluchten aus der DDR12 und den Demonstrationen ausgeht, zur eingeleiteten Entwicklung gezwungen worden sei. Es sei notwendig, diesen Druck weiter zu verstärken, um wirkliche Reformen und spürbare Veränderungen zu erreichen. Bis jetzt seien lediglich Absichtserklärungen abgegeben und Versprechungen gemacht worden.
Analoge Auffassungen vertritt auch eine Vielzahl von kirchlichen Amtsträgern u. a. der Kirche nahestehende Personen. Sie werten den eingeleiteten Dialog, insbesondere die vielfältigen Gespräche von Vertretern der Partei und des Staates mit den Bürgern, als ein Ergebnis der Vermittlerrolle der Kirche zwischen Opposition und Staat. Dadurch habe die Kirche weiter an Einfluss im politischen Leben der DDR gewonnen. Häufig wird vom genannten Personenkreis der Standpunkt vertreten, die »Macht der Straße« auch weiter für die Durchsetzung von Reformen nutzen zu müssen. Generell sei erforderlich, weiter Druck auszuüben, um den Reformkurs zu beschleunigen. Dabei rechne man auch mit der Unterstützung vieler »reformfähiger und -bereiter« Mitglieder der SED an der Basis.
Differenzierte Auffassungen bestehen zu den eingeleiteten Untersuchungen im Zusammenhang mit dem Einsatz der Schutz- und Sicherheitsorgane zur Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit.
Eine Vielzahl von Personen, insbesondere Angehörige der Intelligenz, Kunst- und Kulturschaffende, Jugendliche, äußert, dass bei nachgewiesenen Pflichtverletzungen die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen sind. Vorgenannte Personenkreise fordern teilweise ultimativ die Einsetzung entsprechender Untersuchungskommissionen und äußern sich in aggressiver Form gegen die Schutz- und Sicherheitsorgane.
Die Schutz- und Sicherheitsorgane werden mitverantwortlich gemacht für die entstandene Lage. Es häufen sich Forderungen, das MfS und die DVP müssten sich am Dialog beteiligen und Rechenschaft über die bisherige Arbeit ablegen.
Auf Partei- und Gewerkschaftsversammlungen werden vielfach Gerüchte über Privilegien der Mitarbeiter des MfS und über von ihnen begangene Rechtsverletzungen verbreitet.
Dagegen reagieren besonders progressive Kräfte empört auf die Verleumdungskampagne sowie auf die Ankündigung der Einleitung von Ermittlungsverfahren gegen Angehörige der Schutz- und Sicherheitsorgane. Damit werde ihnen eine Mitschuld an den Ausschreitungen unterstellt und das Vertrauensverhältnis der Bürger zu ihnen untergraben. Es könne nicht akzeptiert werden, wenn VP-Angehörige wegen ihres berechtigten Vorgehens gegen Randalierer und Rowdys bestraft werden. Ihnen müsse vielmehr Dank und Anerkennung für ihren Einsatz ausgesprochen werden. Ihrer Meinung nach dürfe nicht zugelassen werden, dass das Ansehen der Schutz- und Sicherheitsorgane in Misskredit gebracht wird und randalierende sowie andere negative Kräfte einen Freibrief für ihre Ausschreitungen erhalten. Diesbezüglich sei vielmehr eine Differenzierung zwischen notwendigen Reaktionen auf Handlungen von Provokateuren und Kompetenzüberschreitungen erforderlich.
Besonders beachtenswert sind in diesem Zusammenhang Reaktionen und Verhaltensweisen von Angehörigen der Deutschen Volkspolizei und der Kampfgruppen.13 Sie äußern sich stark besorgt und zeigen sich vielfach äußerst stark verunsichert über die gegenwärtig in der Öffentlichkeit ausgetragene Debatte und in besonderem Maße über die Ankündigungen der Einleitung strafprozessualer Maßnahmen gegen Angehörige der Deutschen Volkspolizei im Zusammenhang mit den Polizeieinsätzen Anfang Oktober 1989.14
Die Angehörigen der DVP, die für Ruhe und Ordnung gesorgt haben, wochenlang unbegrenzt ihren Dienst versahen, dürften jetzt nicht als »Buhmann« hingestellt werden. Vielfach äußern sie auch ihr Unverständnis über das Vorgehen der DDR-Massenmedien. Weshalb – so wird gefragt – werden nicht die verletzten VP-Angehörigen befragt und interviewt oder die gefertigten Videoaufzeichnungen, die die Angriffe von Rowdys und Randalierern mit ihren Hilfsmitteln zeigen, veröffentlicht?
Teilweise sprechen sie sich dafür aus, gegen Befugnisüberschreitungen einzelner Sicherheitskräfte vorzugehen, allerdings fehlen zzt. fast vollständig entsprechende Hinweise auf eine analoge Vorgehensweise gegenüber jenen Personen, die diese Auseinandersetzungen tatsächlich provoziert und auch herbeigeführt haben. Damit entstehe die reale Gefahr, dass sich einerseits Provokateure zunehmend ermuntert fühlten und andererseits sich nicht zuletzt die Kadergewinnung für einen Dienst in den bewaffneten Organen, insbesondere in der Deutschen Volkspolizei, weiter kompliziere.
Auch die Erklärung des Vorsitzenden des Ausschusses für Nationale Verteidigung vor dem Staatsrat der DDR, Genossen Dr. Herger,15 am 24. Oktober 1989 habe die bestehenden Unsicherheiten unter VP-Angehörigen hinsichtlich ihres künftigen Verhaltens gegenüber Personen, die die staatliche Ordnung und Sicherheit angreifen, nicht ausräumen können. Bei vielen sei nach dessen Rede auch hier der Eindruck entstanden, für diese Vorkommnisse mitverantwortlich gemacht zu werden.16
In diesem Zusammenhang äußern sich VP-Angehörige auch zunehmend enttäuscht über die Zurückhaltung der Partei- und Staatsführung zu dieser Problematik. Die stillschweigende Duldung von Unmutsäußerungen und Ausfällen breiter Bevölkerungskreise gegen die Schutz- und Sicherheitsorgane erwecke den Eindruck, dass sie nunmehr die Schuldzuweisung für die entstandene innenpolitische Lage erhalten werden.
Diesbezüglich bringen VP-Angehörige teilweise zum Ausdruck, künftig bestimmte negative Handlungen übersehen zu wollen, um sich damit eventuellen Ärger zu ersparen.
Nicht zuletzt sind ständige Uniformträger der Schutz- und Sicherheitsorgane in wachsendem Maße in der Öffentlichkeit Beschimpfungen von Bürgern ausgesetzt. Aufgrund dessen wird besonders von VP-Angehörigen immer häufiger die Bitte an die Vorgesetzten herangetragen, in Zivil zum Dienst erscheinen zu dürfen.