Reaktion der Bevölkerung auf 12. Tagung der Volkskammer
25. November 1989
Hinweise über die Reaktion der Bevölkerung auf die 12. Tagung der Volkskammer der DDR [Bericht O/234]
Nach vorliegenden Hinweisen aus einigen Bezirken der DDR bilden Meinungsäußerungen zur 12. Tagung der Volkskammer der DDR einen Schwerpunkt in der Reaktion der Bevölkerung.1
Im Mittelpunkt dabei stehen die Wahl des Ministerrates der DDR und die Regierungserklärung seines Vorsitzenden.2
Die Bildung einer Regierung mit Koalitionscharakter findet allgemeine Zustimmung und Unterstützung. Mit der Einbeziehung aller politischen Parteien in die Regierung habe die SED, so wird argumentiert, unbedingt notwendige Schlussfolgerungen aus der Entwicklung in der DDR gezogen. Mehrfach wird der dennoch hohe Anteil von Mitgliedern der SED an Ministerposten mit Erstaunen, zum Teil auch ablehnend, zur Kenntnis genommen und vielfach Skepsis zum Ausdruck gebracht, dass diese Konstellation von langer Dauer ist. Leitende Kader aus zentralen staatlichen und wirtschaftsleitenden Organen befürchten, dass die neugewählte Regierung die vielfältigen innenpolitischen Probleme, die durch die offene Grenze noch weiter verschärft würden, nicht in den Griff bekommt und deshalb ihre Amtszeit nur kurz sei.3
Begrüßt wurden insbesondere die zahlenmäßige Reduzierung der Ministerien sowie der Einsatz jüngerer Kader in Ministerfunktionen.
Die Regierungserklärung des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR stößt weitgehend auf zustimmende Resonanz in der Bevölkerung. Sie wird insbesondere von progressiven Kräften als hoffnungsweckend und überzeugend bewertet.
Sie zeige eine reale Entwicklungschance für die DDR auf. Jetzt komme es darauf an, so wird häufig mit Nachdruck hervorgehoben, schnell überzeugende praktische Lösungen für die Probleme in allen gesellschaftlichen Bereichen zu finden.
Leitungskader sowie Arbeiter in Kombinaten und Betrieben, Mitarbeiter staatlicher und wirtschaftsleitender Organe zentraler und territorialer Ebene, Angehörige der wissenschaftlich-technischen und pädagogischen Intelligenz sowie Mitglieder und Funktionäre befreundeter Parteien vertreten die Auffassung, es sei unaufschiebbar, solche Probleme anzupacken, bei denen eine »Schmerzgrenze« in der Bevölkerung erreicht sei.
Als vordringlich werden in diesem Zusammenhang angesehen Maßnahmen zur
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Stabilisierung der materiellen Produktion,
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Gewährleistung des Schutzes der Wirtschaft vor einem »Ausverkauf«,
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Verbesserung der Versorgung,
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Bereitstellung von finanziellen Mitteln für den Reiseverkehr von DDR-Bürgern in das nichtsozialistische Ausland.
Progressive Kräfte schätzen ein, dass die neue Regierung in erster Linie danach beurteilt werde, mit welcher Zielstrebigkeit und Konsequenz sie diese Probleme angehe und was durch sie »in Bewegung gebracht wird«. Dabei würden nur Ergebnisse zählen.
Zustimmung findet die geforderte Lösung der Probleme »von unten«, wobei darunter vor allem eine »Entrümpelung« der Basis von allen uneffektiven Belastungen der Betriebe durch den Staat verstanden wird.
Die angekündigten Strukturveränderungen in der Volkswirtschaft und im Verwaltungsapparat lösten eine Vielzahl von differenzierten Meinungsäußerungen und zum Teil emotional stark geprägten Diskussionen unter den in diesen Bereichen tätigen Werktätigen aus. Im Vordergrund stehen dabei Fragen nach der inhaltlichen Gestaltung künftiger Strukturen, die häufig auch Besorgnis um die eigene berufliche Perspektive bis hin zur Existenzangst beinhalten.
Häufig argumentieren in diesen Bereichen tätige Mitglieder der SED, ihre Arbeit für den Sozialismus sei umsonst gewesen. Sie rechnen mit dem Entstehen eines Arbeitskräfteüberschusses infolge der angekündigten Reformen analog der Entwicklung in Ungarn und Polen, denen in erster Linie Parteimitglieder »zum Opfer fielen«. Man befürchtet, künftig die neue Armutsschicht in der DDR zu bilden, zumal man sich durch die emotionsgeladene Atmosphäre in den Betrieben und Einrichtungen bereits jetzt als Gejagte und Verfolgte fühle. Aus Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes scheue man sich deshalb vor einer offenen Parteinahme bei politischen Auseinandersetzungen.
Darüber hinaus wird befürchtet, bei Aufnahme einer Tätigkeit in einem anderen Bereich Repressalien und Diskriminierungen ausgesetzt zu sein. In diesem Sinne äußern sich insbesondere Mitarbeiter aus dem zentralen Staatsapparat sowie bisher hauptamtlich im Parteiapparat tätig gewesene Parteimitglieder, die bereits mit derartigen Erscheinungen konfrontiert werden.
Mit großer Verbitterung wird von Leitungs- und mittleren leitenden Kadern in Betrieben, staats- und wirtschaftsleitenden Organen sowie Angehörigen der NVA, der Grenztruppen der DDR und des Amtes für Nationale Sicherheit4 der Standpunkt vertreten, man habe viele Jahre stets mit hoher Einsatzbereitschaft und zuverlässig – oft unter Zurückstellung persönlicher Interessen – die übertragenen Aufgaben erfüllt und sei stolz auf den dadurch erbrachten und bisher auch anerkannten Beitrag zur Entwicklung und Stärkung der DDR gewesen.
Die Bereiche Kunst, Kultur und Sport sollten sich weitgehend selbst finanzieren.
Nach wie vor nehmen in allen Bevölkerungskreisen und auf allen Ebenen Diskussionen über Erscheinungen des Funktionsmissbrauchs sowie der Inanspruchnahme von Privilegien durch Partei- und Staatsfunktionäre einen breiten Raum ein.
Diesbezügliche Meinungsäußerungen sind mehrheitlich verbunden mit aggressiven und herabwürdigenden Angriffen auf Mitglieder und Funktionäre der Partei sowie die führende Rolle der SED. Der Bildung eines entsprechenden Untersuchungsausschusses der Volkskammer wird allgemein zugestimmt, wobei generell eine strenge und konsequente Bestrafung der verantwortlichen Funktionäre gefordert wird.
In einer Vielzahl von Meinungsäußerungen zur ökonomischen Situation und zur Devisenlage in der DDR spielt die Entwicklung des Reiseverkehrs von DDR-Bürgern in das nichtsozialistische Ausland eine große Rolle. Obwohl die »Öffnung der Grenzen«5 generell auf breite, zum Teil euphorische Zustimmung der Bevölkerung stieß, mehren sich Meinungsäußerungen, in denen wachsende Sorge und Befürchtungen hinsichtlich negativer Auswirkungen dieser Maßnahmen auf die Lage im Innern der DDR zum Ausdruck kommen. Genannt werden dabei vor allem
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Angst vor einem »Ausverkauf«,
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rapider ökonomischer Abstieg in der DDR und damit Verschlechterung des Lebensniveaus,
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Anstieg der Kriminalität, u. a. durch Schmuggel/Spekulationen mit Waren und Mark der DDR, Prostitution, Drogensucht, Spekulationen mit eingeführten Pkw,
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Wiederbelebung des »Grenzgängertums«.
Das bisher Geleistete werde heute durch Personen in Frage gestellt, die sich in zurückliegender Zeit kaum für die gesellschaftliche Entwicklung in der DDR engagiert hätten. Vorgenannter Personenkreis betrachtet die gegenwärtige Situation, in der jeder seine häufig von egoistischen Zielen geprägten Forderungen lauthals verkünden könne, als unerträglich. Es wird erwartet, dass sich Partei und Regierung sowie die Massenmedien entschiedener dagegen zur Wehr setzen.
Als deprimierend werten Parteimitglieder besonders in Betrieben die ihrer Meinung nach sich weiter verschärfenden, zum Teil außerordentlich aggressiv geführten Angriffe gegen die Betriebsparteiorganisationen und deren aktive Mitglieder und Funktionäre.
Sie verweisen darauf, dass mit diesbezüglichen Aktivitäten besonders Mitglieder von Blockparteien, ehemalige SED-Mitglieder bzw. Vertreter des Neuen Forums6 in Erscheinung treten. Deren Vorstöße zielten eindeutig darauf ab, die SED aus den Betrieben zu verdrängen. Dabei wurden solche Argumente gebraucht wie
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die SED habe die DDR in die Katastrophe geführt, sie dürfe darum nicht mehr das Recht haben, in den Betrieben wirksam zu werden,
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Aktivitäten der SED in den Betrieben und Einrichtungen widersprächen dem Demokratisierungsprozess.
Überwiegend Zustimmung findet die angekündigte Überprüfung der bisherigen Subventionspolitik. Ziel müsse es dabei vor allem sein, jeglicher Lebensmittelverschwendung vorzubeugen, Reserven in der Versorgung mit Wohnraum zu erschließen sowie den Abkauf subventionierter Waren und Erzeugnisse durch Ausländer, wie das in den am 23. November 1989 verkündeten Maßnahmen enthalten sei, zu verhindern.7
(Entsprechenden Hinweisen zufolge gibt es Absichtserklärungen von Werktätigen, in der BRD bzw. in Westberlin einer Arbeit nachgehen zu wollen. Um das zu ermöglichen, wolle man sich krankschreiben lassen bzw. eine Halbtagsbeschäftigung aufnehmen.)
Darüber hinaus liegen aus nahezu allen Bezirken und der Hauptstadt der DDR Hinweise vor, denen zufolge weiterhin Gerüchte über unmittelbar bevorstehende Preissteigerungen – zum Teil begründet mit dem Wegfall von Subventionen – bzw. über eine generell mit einer Abwertung der Mark der DDR verbundene Währungsreform verbreitet werden.
Das finde seinen Niederschlag vor allem in
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umfangreichen Geldabhebungen bei Banken und Sparkassen, wobei hier auch Zusammenhänge zur Nutzung dieses Geldes im Zusammenhang mit dem Reiseverkehr gesehen werden,
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einem ständig anwachsenden und flächendeckenden Abkauf von hochwertigen Konsumgütern (u. a. Kühlschränke und -truhen, Möbel, Waschmaschinen, Radio- und Fernsehtechnik, Schmuckwaren, Kristallwaren).
Auch die ausdrückliche Feststellung, dass die Regierung der DDR den Wert der Spareinlagen garantiere, hat nach bisher vorliegenden Hinweisen nicht beruhigend auf diese Situation gewirkt.
Eng damit im Zusammenhang stehend werden zunehmend pessimistische Auffassungen zur Stabilisierung der Lage im Innern der DDR vertreten.
Es häufen sich Standpunkte, wonach die tiefe ökonomische Krise, insbesondere die hohe Staatsverschuldung, alle Hoffnungen auf eine Konsolidierung der Wirtschaft zerstört habe.
Als einziger erfolgversprechender Ausweg wird von zahlreichen Werktätigen eine enge wirtschaftliche Bindung an die BRD bzw. an die Europäische Gemeinschaft gesehen.
In zunehmendem Umfang gibt es unter Bezugnahme auf den desolaten Zustand in der Wirtschaft Meinungsäußerungen zu einer möglichen Wiedervereinigung beider deutscher Staaten. Obwohl eine Wiedervereinigung Deutschlands zum gegenwärtigen Zeitpunkt mehrheitlich abgelehnt wird, wird die Schaffung einer Konföderation zwischen beiden deutschen Staaten unter Beibehaltung der unterschiedlichen Gesellschaftssysteme als ein möglicher Weg angesehen.
Gleichzeitig wird aber auch die Meinung vertreten, im Falle eines Scheiterns der Politik der Wende sei eine Wiedervereinigung unausweichlich.
In grenznahen Räumen werden von der Bevölkerung zum Teil euphorische Bekenntnisse zur Wiedervereinigung, die durch die Öffnung der Grenze ihrer Meinung nach bereits praktisch vollzogen sei, artikuliert. Die Kontakte zwischen den Menschen in Ost und West seien niemals abgerissen gewesen; man fühle sich als Deutsche verbunden. Alles andere sei eine Sache der Regierung.
Zur Bildung des Amtes für Nationale Sicherheit besteht in verschiedenen Bevölkerungskreisen ein differenziertes und breitgefächertes Meinungsspektrum.
Mehrheitlich äußern sich Werktätige in Betrieben und Einrichtungen dahingehend, in jedem entwickelten Land habe ein derartiges Sicherheitsorgan seine Berechtigung und sei deshalb auch im Sozialismus unbedingt notwendig. Hauptsächlich unter dem Eindruck der wachsenden Reiseströme zwischen der DDR und der BRD bzw. von und nach Westberlin und daraus resultierender Befürchtungen hinsichtlich zunehmender Erscheinungen des Schmuggels und der Spekulation, vermehrter Aktivitäten neofaschistischer/terroristischer Kräfte, einer Zunahme gegnerischer Angriffe gegen Bereiche der Volkswirtschaft sei es unbedingt erforderlich, umgehend eine gesetzliche Fixierung der Aufgaben und Befugnisse des neuen Amtes für Nationale Sicherheit herbeizuführen, um insbesondere unter dem Aspekt dieser aktuellen Erfordernisse seine Arbeitsfähigkeit zu gewährleisten.
Dies würde gleichzeitig dazu beitragen, der weitverbreiteten Auffassung entgegenzuwirken, wonach lediglich eine Namensänderung mit einigen strukturellen Veränderungen vorgenommen worden sei.
Im Zusammenhang mit Äußerungen über die Befürwortung der Notwendigkeit eines »Geheimdienstes im Sozialismus« werden neben einer klaren gesetzgeberischen Kompetenzbestimmung gleichzeitig Forderungen nach umfassender parlamentarischer Kontrolle des Amtes für Nationale Sicherheit erhoben. So argumentieren beispielsweise Mitglieder des Neuen Forums, es gehe nicht um die Abschaffung der hauptamtlich tätigen Sicherheitskräfte, sondern um eine Offenlegung ihrer »internen Arbeit« in Betrieben und Wohngebieten.
Generell wird das ehemalige MfS als Stütze der bisherigen Parteiführung angesehen und mitverantwortlich gemacht für die entstandene Lage in der DDR.
Ungeachtet bestehender Einsichten über die Notwendigkeit eines Sicherheitsorgans in der DDR gibt es darum nach wie vor umfangreiche Angriffe auf die Tätigkeit der Dienststellen der Staatssicherheit sowie Verleumdungen und Diffamierungen der Mitarbeiter einschließlich deren Angehörigen.
Dabei kommt es, u. a. ausgehend von den Veröffentlichungen zum Fall Janka,8 zu teilweise hasserfüllten Ausfällen, verbunden mit Forderungen nach strenger Bestrafung jener Verantwortlichen, die in der Vergangenheit Rechtsverletzungen begangen hätten. Für diese Personen dürfe im Amt für Nationale Sicherheit kein Platz sein. Darüber hinaus liegen aus den Bezirken Rostock, Erfurt und aus der Hauptstadt der DDR erste Hinweise vor, wonach Arbeitskollektive eine Einstellung ehemaliger MfS-Mitarbeiter in ihren Betrieben kategorisch ablehnen.
Wiederholt erklärten progressive Kräfte, insbesondere Mitglieder der SED, mit der Bildung des Amtes für Nationale Sicherheit und dem damit verbundenen personellen Abbau werde die Tätigkeit des für die staatliche Sicherheit zuständigen staatlichen Organs zur Bedeutungslosigkeit abgestempelt, werde insgesamt seine Schwächung herbeigeführt, wofür das Land in absehbarer Zeit vermutlich einen hohen Preis zu zahlen habe.
Vorliegende Einzelhinweise auf Meinungsäußerungen zum Bericht des Generalstaatsanwaltes beinhalten Auffassungen wie
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die geführten Untersuchungen seien zu einseitig auf Übergriffe von Angehörigen der Schutz- und Sicherheitsorgane ausgerichtet,
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wenn Gewalttaten von Unruhestiftern nicht konsequent geahndet werden, könne das zu einer weiteren Eskalierung führen,
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zu Übergriffen seitens MfS-Angehöriger seien keine klaren Aussagen getroffen worden, obwohl gerade das erwartet worden sei.
Aus dem Bezirk Gera vorliegenden Hinweisen zufolge wird gegenwärtig in kirchlichen Kreisen das Gerücht verbreitet, das Amt für Nationale Sicherheit würde aktiven Einfluss auf die NVA zur gemeinsamen Vorbereitung eines Putsches in der DDR nehmen.