Reaktion der Bevölkerung auf das »Neue Forum«
13. Oktober 1989
Hinweise auf die Reaktion der Bevölkerung im Zusammenhang mit der sogenannten Sammlungsbewegung »Neues Forum« [Bericht O/229]
Vorliegenden Hinweisen aus allen Bezirken und der Hauptstadt der DDR, Berlin, zufolge nehmen Meinungsäußerungen in den verschiedensten Bevölkerungskreisen zur sogenannten Sammlungsbewegung »Neues Forum«1 vor allem unter dem Eindruck der jüngsten innenpolitischen Ereignisse breiten Raum ein.2
In besonderem Maße treten damit Angehörige der wissenschaftlich-technischen Intelligenz, Mitarbeiter zentraler und territorialer Staatsorgane, Studenten, Lehrkräfte an Universitäten, Hoch- und Fachschulen, Personen aus dem Bereich Kunst und Kultur, kirchliche Amtsträger, Jugendliche sowie Angehörige bewaffneter Organe in Erscheinung.
Progressive Kräfte vertreten mehrheitlich den Standpunkt, dass die Maßnahmen des Staates zur Unterbindung von Aktivitäten zur Bildung von Vereinigungen antisozialistischen Charakters gerechtfertigt und notwendig sind. Sie vertreten vielfach die Auffassung, die Probleme der entstandenen komplizierten innenpolitischen Situation könnten nur durch die Partei der Arbeiterklasse in engem Zusammenwirken mit den befreundeten Parteien und den gesellschaftlichen Organisationen gelöst werden. Die Partei dürfe auch künftig nicht zulassen, dass feindliche, oppositionelle Kräfte die Unzufriedenheit unter der Bevölkerung, das Suchen nach Lösungswegen und die vorhandene Bereitschaft, im Sinne einer Lösung der Probleme an Veränderungen mitzuwirken und sich zu engagieren, ausnutzen, um sich zu etablieren und Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung in der DDR zu gewinnen.
Häufig wird jedoch von diesem Personenkreis äußerst kritisch angemerkt, die lakonische Mitteilung des Ministers des Innern der DDR über die Ablehnung des Antrages zur Bildung einer Vereinigung »Neues Forum« und die darin vorgenommene Bewertung des staats- und verfassungsfeindlichen Charakters der beantragten Vereinigung sei für sich genommen völlig unzureichend,3 um die Bevölkerung ausreichend zu informieren und von der Richtigkeit der Entscheidung zu überzeugen. Die Mitteilung habe unter den Werktätigen eine Reihe von Fragen zu den formulierten Zielen und den Initiatoren des »Neuen Forums« aufgeworfen, die insbesondere durch fortgesetzte Meldungen in westlichen Medien über das Wirksamwerden des »Neuen Forums« noch zwingender gestellt würden.
Mitglieder der SED u. a. progressive Kräfte äußern sich enttäuscht über das Ausbleiben überzeugender Argumentationen in den Medien der DDR, mit Ausnahme der Zeitung »Junge Welt«, die als beispielgebend genannt wird.
Erwartet und gefordert werden aktuelle erläuternde Informationen und Kommentierungen im Sinne einer polemischen Auseinandersetzung mit den Inspiratoren und Organisatoren des »Neuen Forums« sowie mit deren erklärten Zielen.
Nur so sehen sie sich in die Lage versetzt, offensiv und überzeugend in den Diskussionen mit den Werktätigen, vor allem aber mit der Jugend, auftreten zu können.
Vorliegenden Hinweisen zufolge zeigt sich ein sehr differenziertes Meinungsspektrum zum Charakter des »Neuen Forums«. Auch progressive Kräfte zeigen Unsicherheit in der politischen Bewertung und Auseinandersetzung mit Anhängern und Sympathisanten des »Neuen Forums«.
Sie vertreten zum Teil die Auffassung, die vom »Neuen Forum« aufgeworfenen Probleme seien auch von ihnen längst als solche erkannt worden. Der bisher fehlende öffentliche, unter Leitung der Partei stehende Meinungsstreit habe diesen Kräften die Möglichkeit gegeben, sich zu profilieren und auf Kosten der Partei Einfluss vor allem unter jungen Menschen zu gewinnen. In der DDR brauche man, so äußern sie sich weiter, keine Oppositionsbewegungen oder -parteien.
Dennoch vertreten zahlreiche Arbeiter und Angestellte aus Großbetrieben sowie Angehörige der Intelligenz die Auffassung, man müsse unter Anhängern und Sympathisanten des »Neuen Forums« differenzieren. Es gebe unter diesen nicht wenige, die sich zu ihrem Staat bekennen und mit ihrer Haltung zum »Neuen Forum« lediglich ihrem eigenen und dem Anliegen vieler Bürger Rechnung tragen, im Rahmen eines politischen Dialogs Lösungen für Mängel und Missstände in der DDR zu finden. Die Partei müsse den Mut zu diesem Dialog haben. Mit diesen Anhängern des »Neuen Forums« sollte sich die Partei auseinandersetzen und sie zielgerichtet in die Mitwirkung an gesellschaftlichen Veränderungen einbeziehen. Der Dialog sei aber auch erforderlich, um jene Personen zu erkennen, die gegen die Grundlagen der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung vorgehen wollen und sie zu entlarven.
Das »Neue Forum« und seine Anhänger generell als verfassungsfeindlich abzustempeln, führe nur zur Konfrontation und zu einer zahlenmäßigen Stärkung dieser Kräfte. Die Vorgänge in Leipzig u. a. Städten seien Beweis dafür.
In einem beachtlichen Umfang gibt es darüber hinaus in der Bevölkerung, vor allem unter Angehörigen der wissenschaftlich-technischen Intelligenz, Personen aus den Bereichen Gesundheitswesen sowie Kunst und Kultur, Studenten und kirchlichen Amtsträgern, aber auch direkt zustimmende, sich identifizierende und unterstützende Meinungen und Haltungen zum »Neuen Forum«.
Das findet seinen Niederschlag in zahlreichen Handlungen des Verbreitens, Verlesens und heftigen Diskutierens des Gründungsaufrufes des »Neuen Forums«4 sowie in entsprechenden Meinungsäußerungen, in denen sich zum großen Teil auch Argumentationsrichtungen westlicher Medien direkt widerspiegeln.
Es stelle sich generell die Frage, so äußern sich genannte Personenkreise, warum in der DDR kein Ventil für angestaute, nicht sanktionierte Meinungen in Form einer solchen Bewegung zugelassen wird. Nicht jede Meinung, die nicht zur »Parteilinie« passe, müsse mundtot gemacht werden.
Eine solche Reaktion wie das staatliche Verbot sei letztlich Ausdruck von Schwäche in der Argumentationsfähigkeit und Überzeugungskraft der Partei und ihrer Mitglieder.
In der DDR seien unter Führung der Partei keine gesellschaftlichen Veränderungen im erwarteten Sinne erkennbar, sodass die Existenz von oppositionellen Bewegungen begründet sei.
Die erfolgte Abweisung des Zulassungsantrages durch den Minister des Innern sei nach Meinung u. a. von kirchlichen Amtsträgern, Studenten und Angehörigen der Intelligenz nicht rechtskräftig und könne nicht hingenommen werden. Eine Verfassungsfeindlichkeit müsse gerichtlich festgestellt werden. Jetzt gelte es, den gesellschaftlichen Einfluss dieser Bewegung in Erwartung eines solchen gerichtlichen Verfahrens so zu stärken, dass die Aufrechterhaltung des staatlichen Verbotes unmöglich sei.
Zahlreiche religiös gebundene Bürger bewerten das »Neue Forum« als eine mögliche legale Opposition in der DDR, von deren Wirken sie sich eine schnellere Lösung von Widersprüchen in der Gesellschaft erhoffen. Sie sprechen sich jedoch für eine gewisse Abgrenzung zwischen den gesellschaftspolitischen Zielen der Kirchen und dem »Neuen Forum« aus, um nicht von solchen Kräften vereinnahmt zu werden.
Im Gegensatz dazu engagieren sich viele kirchliche Amtsträger im Rahmen des »Neuen Forums«. Vielfach propagieren sie selbst den sogenannten Gründungsaufruf bzw. stellen dafür kirchliche Räumlichkeiten oder kircheneigene Drucktechnik zur Verfügung.
Sie leiten die Berechtigung für solche Verhaltensweisen ab aus der von ihnen empfundenen Übereinstimmung zwischen Zielen und Inhalten des »Neuen Forums« und dem jüngsten Beschluss der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR vom September 1989, der das gesamte politische Forderungsprogramm der Kirchen enthält.5