Reaktion der Bevölkerung zu innenpolitischen Problemen
6. November 1989
Beachtenswerte Aspekte der Reaktion der Bevölkerung zu innenpolitischen Problemen [Bericht O/232]
Die Reaktion der Bevölkerung ist maßgeblich geprägt von einem sehr differenzierten Meinungsspektrum sowie einer Vielzahl spontaner, oft kontrovers und stark emotional geführter Diskussionen in den Arbeitskollektiven, im Rahmen von Versammlungen/Veranstaltungen der SED und befreundeter Parteien sowie von gesellschaftlichen Organisationen zur aktuellen Lage in der DDR. Im Mittelpunkt stehen dabei Auffassungen zum gesellschaftlichen Dialog, zu den stattfindenden Demonstrationen sowie Erwartungshaltungen im Zusammenhang mit der 10. Tagung des ZK der SED.1
Generell ist auf allen Ebenen ein großes Interesse der Werktätigen an einem konstruktiven Dialog erkennbar. In breitem Umfang wird von ihnen Zustimmung zu den an Umfang und Intensität gewachsenen Gesprächen mit Bürgern sowie den Arbeitskollektiven bekundet. Es wird die Auffassung vertreten, mit derartigen Gesprächen sei eine akzeptable Form wiedergefunden worden, mit den Werktätigen direkt ins Gespräch zu kommen und unverfälscht ihre Sorgen/Probleme und Standpunkte anhören und Antwort geben zu können. Mit dieser Form des Zusammenwirkens könne eine Ausgangsbasis für weitere Veränderungen in der Gesellschaft geschaffen werden.
Dennoch werden in beachtlichem Umfang von breitesten Bevölkerungskreisen, darunter vor allem Arbeiter aus Großbetrieben, Angehörige der wissenschaftlich-technischen Intelligenz, Studenten, Personen aus dem Bereich Kunst und Kultur sowie Funktionäre und Mitglieder befreundeter Parteien, Auffassungen vertreten, der Dialog müsste auf allen Ebenen konstruktiver geführt werden und stärker auf konkrete Veränderungen abzielen.
Mit sogenannten Palaververanstaltungen müsse endlich Schluss gemacht werden. Die Ernsthaftigkeit des Willens der Partei und ihrer Führung zur Wende werde letztendlich danach beurteilt, welche Veränderungen und praktischen Schritte dazu eingeleitet worden sind.
Von einer Vielzahl von Werktätigen, darunter viele Arbeiter in Kombinaten und Großbetrieben, werden auch weiterhin Unsicherheiten, Skepsis, Ratlosigkeit und zum Teil auch Angst über die weitere Entwicklung in der DDR zum Ausdruck gebracht.
Die Tätigkeit der Partei- und Staatsorgane in den Bezirken und Kreisen in der gegenwärtigen Situation wird dabei überwiegend als strategie- und konzeptionslos bewertet. Die von der Parteiführung angekündigte Wende sei bisher ohne nennenswerte praktische Wirkung an der Basis geblieben, werde von den mittleren und unteren Ebenen nicht mitvollzogen, sondern eher abgeblockt.2
Insbesondere im Bereich der materiellen Produktion äußern Werktätige darüber zunehmend Unmut und Ungeduld. Häufig werden von ihnen scharf formulierte Fragen gestellt, wie es konkret weitergehen solle.
Aus allen Bezirken der DDR liegen umfangreiche Hinweise vor über massive Kritiken der Werktätigen, die auch von Mitgliedern der SED getragen werden, an einer Vielzahl von Funktionären der Bezirks- und vor allem der Kreisleitungen der SED, an wirtschaftsleitenden Kadern sowie leitenden Mitarbeitern der Räte der Bezirke und der Kreise, weil sie sich nicht den Fragen der Werktätigen stellen. Es sei völlig unverständlich, so wird geäußert, dass diese Funktionäre so weiterarbeiten wie bisher. Vielfach scheuen sie die Öffentlichkeit, lassen sich seit Wochen nicht in den Betrieben sehen.
Ausgehend davon ist die Stimmungslage der Werktätigen in einer Reihe von Betrieben und Einrichtungen äußerst angespannt.
In einer Vielzahl hitziger und emotional stark geprägter Meinungsäußerungen wird – zum Teil unter Androhung bzw. Absichtserklärungen von Arbeitsniederlegungen (entsprechende Hinweise liegen aus den Bezirken Erfurt, Halle und Karl-Marx-Stadt vor) von den Funktionären gefordert, das Gespräch mit den Werktätigen zu beginnen.
Das Auftreten einer Reihe hauptamtlicher, zum Teil langjähriger Funktionäre auf Parteiaktivtagungen bzw. vor Werktätigen findet vielfach keine positive Resonanz, weil sie entsprechende Erwartungen auf Konstruktivität nicht erfüllen. Nach wie vor werde dabei über die Köpfe der Menschen hinweggeredet, würden die von Betriebsparteiorganisationen sowie Gewerkschaftsgruppen aufgeworfenen Fragen nicht beantwortet.
Unter den verantwortlichen Funktionären herrsche eine »lähmende Ohnmacht« gegenüber der Situation, die in vielen Fällen bis zur Hilflosigkeit und Handlungsunfähigkeit ginge.
Ursachen dafür werden nach Meinung progressiver Kräfte vor allem darin gesehen, dass diese Funktionäre nicht fähig und auch nicht willens seien, sich das Wesen der neuen Politik zu erschließen. Sie verharrten in alten Denkschablonen und hätten es verlernt, offen auf Arbeiterart zu sprechen. Offensichtlich fühlten sie sich einem Streitgespräch mit den Arbeitern nicht gewachsen. Vor allem befürchteten sie wohl, so äußern sich viele Arbeiter, mit konkreten und für sie unangenehmen Fragen nach ihren bisher in Anspruch genommenen Privilegien sowie nach ihrer persönlichen Verantwortung konfrontiert zu werden und eigene Konsequenzen diesbezüglich offensichtlich ziehen zu müssen.
In diesem Zusammenhang spitzen sich Forderungen nach Kaderveränderungen in Führungsfunktionen der Bezirke und Kreise zu.
Werktätige aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen bringen offen zum Ausdruck, dass viele Funktionäre und verantwortliche Kader ihr Vertrauen verloren hätten und fordern mit Nachdruck – oft auch unter dem Beifall der auf Versammlungen bzw. Foren Anwesenden –, diese Funktionäre abzulösen und für ihre Fehler und den persönlichen Missbrauch ihrer Funktion zur Verantwortung zu ziehen.
Mehrfach wird in diesem Zusammenhang besonders von Arbeitern der Führungsanspruch der SED generell in Frage gestellt und zum Teil offen abgelehnt. Die weitere Praxis müsse beweisen, welche politische Kraft dem Führungsanspruch künftig gerecht werden könne.
Beachtenswert in diesem Zusammenhang erscheinen auch wiederholt zum Ausdruck gebrachte Standpunkte/Forderungen, wonach mit der bisherigen Praxis Schluss gemacht werden muss, dass die SED in die Leitung von Produktionsprozessen und -abläufen reglementierend eingreift. Für die Organisation der Produktions- und Reproduktionsprozesse seien ausschließlich die Leiter der Betriebe verantwortlich.
Zahlreiche Mitglieder der SED u. a. progressive Kräfte vertreten den Standpunkt, es müsse der SED gelingen, schneller und spürbarer aus der defensiven Position herauszukommen. Gegenwärtig werde der Kurs der Wende noch zu stark von den »Ereignissen auf der Straße« und in Kirchen sowie durch Forderungen von Personenkreisen, deren politische Einordnung schwerfällt, bestimmt.
Zu den in den Bezirken und der Hauptstadt der DDR anhaltend stattfindenden Demonstrationen und Bürgergesprächen gibt es unter der Bevölkerung ein differenziertes, zum Teil auch widersprüchliches Meinungsspektrum. In Arbeitskollektiven werden dazu in wachsendem Maße, wenn auch nicht dominierend, Auffassungen vertreten, bisher habe sich die angestrebte Kultur im Meinungsstreit noch nicht durchgesetzt. Es überwiegen in Gesprächen deutlich verbale Angriffe auf Funktionäre sowie auf die Politik der SED, die zumeist sehr stark emotional geprägt vorgetragen werden und die Stimmung unter den Gesprächsteilnehmern anheizen. Noch werde kein ergebnisorientierter Dialog geführt.
Vor allem progressive Kräfte bringen ihre Erwartung zum Ausdruck, dass es der Partei baldigst gelingt, die Leute von der Straße wegzubekommen. Von Demonstrationen und allgemeinen Bürgergesprächen seien ihrer Meinung nach keine konstruktiven Lösungen zu erwarten.
Demgegenüber vertreten nach wie vor insbesondere Angehörige der Intelligenz, Studenten, kirchliche Amtsträger, Personen aus dem Bereich Kunst und Kultur und in beachtlichem Umfang auch Werktätige aus Großbetrieben Auffassungen, wonach nur mit Demonstrationen weitere und konkrete Veränderungen erreicht werden können. Eine entsprechende Bereitschaft zur Teilnahme an solchen Demonstrationen ist unter breiten Bevölkerungskreisen vorhanden.
Vorliegenden Hinweisen zufolge nehmen vor allem unter klassenbewussten Arbeitern und Mitgliedern der SED Befürchtungen zu, dass die Demonstrationen sich ausweiten könnten und damit zunehmend die Gefahr der Konfrontation wachse, die letztlich eine Eskalation der Unruhe unter der Bevölkerung bis hin zu Streiks auslösen könnte.
Unter großen Teilen der Bevölkerung kommt es immer wieder zu Sympathiebekundungen für das »Neue Forum«.3 So sehen u. a. Angehörige der medizinischen und wissenschaftlich-technischen Intelligenz, Studenten und Schüler/Lehrlinge, Genossenschaftsbauern, selbstständige Gewerbetreibende, Kunst- und Kulturschaffende sowie religiös gebundene Personen, aber zunehmend auch Arbeiter, im »Neuen Forum« die einzige gesellschaftliche Kraft, die wirkliche Reformen und Veränderungen anstrebt.
Eine antisozialistische Zielstellung des »Neuen Forums« wird in Abrede gestellt und nachdrücklich die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Ablehnung seiner Zulassung als Vereinigung aufgeworfen.
Dabei wird die Forderung an die zuständigen staatlichen Organe erhoben, dazu konkret Stellung zu nehmen.
Es mehren sich Auffassungen unter genannten Personenkreisen – vielfach auch unter Arbeitern –, wonach die Existenz einer »inneren Opposition« in der DDR ihre Berechtigung habe, als Garantie dafür, dass die SED nicht wieder in »ihren alten Trott« der Bevormundung und Selbstverherrlichung zurückfalle.
Progressive Kräfte zeigen sich stark verunsichert bei der Bewertung des »Neuen Forums« und von ihm ausgehender Aktivitäten. Es wird Unverständnis geäußert über den offiziellen Umgang mit Vertretern des »Neuen Forums«, ihrer offensichtlichen Tolerierung und Einbeziehung in Bürgergespräche sowie über das Auftreten von Führungskräften des »Neuen Forums« in den Medien der DDR. Das stehe ihrer Meinung nach in direktem Widerspruch zu dem erklärten verfassungsfeindlichen Charakter und – darauf wird von ihnen nachdrücklich verwiesen – zu den von der Partei intern dazu gegebenen Informationen, Einschätzungen und Argumentationen.
Aufgrund der weiter ansteigenden Resonanz unter breitesten Kreisen der Bevölkerung und deren Identifizierung mit dem »Neuen Forum« sowie im Hinblick auf die mehrfache und öffentliche Positionierung von Führungskräften und Sympathisanten des »Neuen Forums« zu ihrem verfassungsgemäßen Wirksamwerden sei deshalb eine Zulassung des »Neuen Forums« umgehend erforderlich.
Die umfassenden, in Reaktion auf die entstandenen neuen gesellschaftlichen Erfordernisse erfolgten Veränderungen in der Medien-/Informationspolitik finden in allen Teilen der Bevölkerung starke Beachtung und Zustimmung. Es sei festzustellen, so wird argumentiert, dass mit der jetzigen lebensnahen Berichterstattung und mit der realen Darstellung der vielfältigen Entwicklungsprobleme in der DDR das Interesse an unseren Massenmedien bedeutend angewachsen sei und mit der zunehmenden Fülle der darin vermittelten aktuellen innenpolitischen Probleme ein reger Meinungs- und Gedankenaustausch zur weiteren gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR gefördert werde.
Progressive Kräfte, insbesondere Mitglieder der SED, verweisen in diesem Zusammenhang allerdings auch auf negative Folgeerscheinungen. So wird u. a. darauf verwiesen, die Vielfalt der in Presse, Rundfunk und Fernsehen dargestellten Probleme, Hemmnisse, Widersprüche und Fehler überfordere breite Bevölkerungskreise, wecke ständig neue Emotionen, verstärke die Unruhe, da sich letztlich die Schlussfolgerung einer völlig verfehlten Politik der SED aufdränge. Damit würden alle jene in ihrer Auffassung bestärkt, die die führende Rolle der SED in der Gesellschaft völlig ablehnen. Darüber hinaus bestehe die reale Gefahr des Zugangs der DDR-Massenmedien für feindlich-negative Kräfte und der Propagierung ihrer staatsfeindlichen Positionen in den Medien.
Anhaltend heftig wird von Angehörigen der Schutz- und Sicherheitsorgane, Mitarbeitern des Staatsapparates sowie weiteren progressiven Kräften die nach wie vor einseitige Berichterstattung im Zusammenhang mit den eingeleiteten Untersuchungen über Befugnisüberschreitungen der Einsatzkräfte gegenüber Demonstranten diskutiert und mit zunehmender Schärfe kritisiert.4
Die völlig unzureichende Positionierung unserer Medien zu diesen Vorfällen könne negative Wirkungen innerhalb dieser Organe zur Folge haben – starke Verunsicherung, fühlten sich von der Partei im Stich gelassen, Dienstquittierungen, keine Kaderneugewinnung – sowie darüber hinaus, und darin bestehe die eigentliche Gefährlichkeit, nicht nur für Randalierer und Rowdys einen Freibrief für eine weitere Forcierung ihrer Angriffe gegen unser Gesellschaftssystem darstellen.
Besondere Empörung lösten unter vorgenannten Personenkreisen die unwidersprochen gebliebenen Aussagen des Gründungsmitgliedes des »Neuen Forums«, B. Bohley,5 am 1. November 1989 im DDR-Jugendradio aus, wonach mit der Staatssicherheit keine Wende möglich sei.6 Eine solche Entwicklung gehe, auch wenn in den Medien gegenwärtig jeder sagen könne was er denkt, entschieden zu weit. Es müsse vielmehr unverzüglich und mit aller Konsequenz gegen derartige Äußerungen vorgegangen werden, da diese einen Angriff auf die Grundlagen des sozialistischen Staates darstellen.
Immer häufiger wird in diesem Zusammenhang die Frage aufgeworfen, warum die Parteiführung nicht mehr unternehme, um in der Öffentlichkeit die verleumderischen Angriffe und Beschuldigungen gegenüber den Schutz- und Sicherheitsorganen zurückzuweisen.
Je mehr Zeit für eine Richtigstellung der Ereignisse verstreiche, desto mehr schwinde das ohnehin bereits gestörte Vertrauensverhältnis der Bevölkerung zu den Schutz- und Sicherheitsorganen und mache es den progressiven Kräften immer schwerer, für sie Partei zu ergreifen.
Die Duldung der Hetz- und Verleumdungskampagne gegenüber den Schutz- und Sicherheitsorganen insbesondere durch die Bezirks- und Kreisleitungen der Partei werten zahlreiche Mitarbeiter dieser Organe sowie Kommandeure von Kampfgruppen7 als Anzeichen dafür, dass das MfS in diesem Prozess der Auseinandersetzungen »geopfert« und für die entstandene Lage verantwortlich gemacht werden solle.
In vielen Diskussionen und Gesprächen der Werktätigen werden breitgefächerte Erwartungshaltungen im Zusammenhang mit der bevorstehenden 10. Tagung des ZK der SED zum Ausdruck gebracht. Fest gerechnet wird mit weiteren Kaderveränderungen sowie mit der Beschlussfassung über Maßnahmen zur Stabilisierung der Volkswirtschaft und der Versorgung.
Grundtenor der Meinungsäußerungen ist, die bisherige Parteiführung habe das Vertrauen des Volkes endgültig verloren. Ihr wird die Fähigkeit und auch der ehrliche Wille zur Durchsetzung von Reformen und Veränderungen generell abgesprochen.
Immer stärker werden – mit Blick auf das 10. Plenum des ZK der SED – von progressiven Kräften, darunter leitende Kader und Mitarbeiter zentraler staats- und wirtschaftsleitender Organe sowie von Kombinaten und Betrieben, Forderungen nach völliger Offenlegung der grundsätzlichen Probleme in Partei, Staat und Gesellschaft, insbesondere in der Volkswirtschaft, bis hin zur Finanz- und Kreditsituation der DDR gestellt.
Es sei ihrer Meinung nach ein eklatanter Fehler gewesen, dass Genosse Krenz8 nicht bereits in seiner Antrittsrede auf diese Probleme eingegangen ist, obwohl ihm entsprechend zugearbeitet worden sei.9 Es stelle sich die Frage, ob ihn da nicht noch die alten Berater, die eine Offenlegung der ökonomischen Lage seit Jahr und Tag verhindern, beeinflusst hätten.
Mit großer Sorge äußern sich leitende Kader zuständiger staatlicher Organe über die prekäre finanzielle Situation der DDR. Die unverzügliche unbeschönigte Darlegung dieser Situation sei ihrer Meinung nach zwingend erforderlich, damit sich Partei- und Staatsfunktionäre sowie die gesamte Bevölkerung des ganzen Ernstes der finanziellen Lage bewusst werden, um keine leeren Versprechungen zu machen und keine illusionären Erwartungen im Hinblick auf kurzfristig mögliche Veränderungen unter der Bevölkerung, z. B. im Zusammenhang mit dem Reiseverkehr und der Versorgung, aufkommen zu lassen.
Derzeitig bestünde immer noch die Gefahr, dass sich leitende Genossen Illusionen über eine anhaltende Verbesserung bzw. Beherrschung der Lage durch Importe machen und diese dann auch noch öffentlich vortragen.
Tatsächlich herrsche in einer Reihe zentraler Partei- und Staatsorgane ihrer Meinung nach immer noch der alte, unehrliche Arbeitsstil vor.
So sei der Eindruck entstanden, dass sich weder die Parteiführung noch der Ministerrat bisher ernsthaft mit der ökonomischen, vor allem der Finanz- und Kreditsituation der DDR, beschäftigt habe. Beweis dafür wäre, dass bisher keine Finanzexperten in die Arbeit der Arbeitsgruppen des ZK der SED einbezogen worden seien.
Auch gebe es keine verbindlichen Absprachen mit den zuständigen Finanz- und Bankorganen zur finanziellen Untersetzung der vorgesehenen Reiseregelungen für DDR-Bürger bzw. zur Durchführung der NSW-Importe für die Weihnachtsversorgung. Beide Maßnahmen gingen jedoch eindeutig zulasten der NSW-Zahlungsbilanz.
Mitarbeiter zentraler Planungsorgane verweisen mit Besorgnis darauf, dass sich in ihrer Einrichtung noch kein neuer Arbeitsstil durchgesetzt habe. Sie stellen die Frage, wann endlich die reale Einschätzung der Lage auf ökonomischem Gebiet zur Basis für die Planungsarbeit gemacht werde.
Vorliegenden Hinweisen zufolge entwickelten Leitungskader und Mitarbeiter staatlicher Organe konkrete Vorschläge zur künftigen Arbeitsweise der Zentralverwaltung für Statistik und ihren nachgeordneten Organen.
Als notwendig wird von ihnen angesehen:
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eine radikale Überprüfung des gegenwärtig praktizierten staatlichen Berichtswesens mit dem Ziel, alle wirkungslosen Berichte, Abrechnungen und Analyse einzustellen, um dadurch einen wirksamen Beitrag zur erforderlichen Entlastung der Betriebe und Institutionen von überflüssiger Verwaltungsarbeit zu leisten (nach Experteneinschätzung könnte das bisherige Berichtswesen auf mindestens die Hälfte reduziert werden).
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die völlige Neuabstimmung des Informationsbedarfs an echten ökonomischen Führungskennziffern der zentralen und örtlichen Partei- und Staatsorgane; Neukonzipierung der Arbeit der staatlichen Zentralverwaltung für Statistik und ihrer »Zuarbeiter« in allen gesellschaftlichen Bereichen auf dieser Grundlage; Vermeidung jeglicher Überspitzung bezüglich der von den Betrieben und Einrichtungen zu meldenden Kennziffern und Festlegung vernünftiger Periodizitäten für deren Bereitstellung.
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eine uneingeschränkte Gewährleistung einer wahrheitsgetreuen Bereitstellung zahlenmäßiger und analytischer statistischer Informationen mit konsequent konkreter Ursachenforschung und der Möglichkeit einer schonungslosen Aufdeckung von Fehlern und deren Ursachen (auch Verursacher) in der Leitung des Reproduktions- und Versorgungsprozesses auf allen Ebenen für die Führungs- und Leitungstätigkeit der Partei und des Staates; die Statistik dürfe nicht und von niemandem an der Darstellung der Wirklichkeit gehindert werden.
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die konsequente Aufdeckung von Verstößen gegen den Grundsatz der Berichtswahrheit im Berichtswesen der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik und anderer Institutionen; strikte Einhaltung der auf diesem Gebiet vorhandenen Gesetze und Richtlinien sowie Bestrafung der für Gesetzesverstöße auf den Gebieten Rechnungsführung und Statistik Verantwortlichen nach einheitlichen Maßstäben und ohne Ansehen der Person.
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die uneingeschränkte Versachlichung jeglicher Öffentlichkeitsarbeit über Ergebnisse des Volkswirtschaftsplanes im Rundfunk, Fernsehen und Pressewesen der DDR. Darstellung der positiven und negativen Hauptergebnisse; offene Darlegung zugelassener Versäumnisse und entstandener Mängel in der Führungs- und Leitungstätigkeit, die zu den negativen Tendenzen und Ergebnissen führten; offene Darlegung der objektiven Erfordernisse, um aufgetretene Disproportionen und Mängel schnell und wirkungsvoll beseitigen zu können.
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die Beseitigung des »Deckmantels« angeblicher »Staats- und Dienstgeheimnisse« zur Bagatellisierung oder Vertuschung aufgetretener Unzulänglichkeiten in der Wirtschaftsführung der proportionalen Reproduktion und Entwicklung sowie vor allem der Versorgung der Bevölkerung mit Waren, Dienst- und Reparaturleistungen. Die Bevölkerung sollte, abgesehen von wirklich notwendigen Staatsgeheimnissen, über alles, was ihr Leben im weitesten Sinne betrifft, schnell, wahrheitsgemäß und umfassend informiert werden.
Darüber hinaus wird die Auffassung vertreten, durch den Aufbau einer eigenen Informationsstrecke im Parteiapparat sei der Grundsatz durchbrochen worden, die Zentralstelle für Statistik sei auf allen Ebenen für die objektive Bewertung ökonomischer Ergebnisse verantwortlich. Daraus wird die Notwendigkeit abgeleitet, diese alten Verfahrensweisen wieder rückgängig zu machen.
In weiteren Meinungsäußerungen wird auf die Notwendigkeit der Neubestimmung von Staatsgeheimnissen aufmerksam gemacht, da heute eine Reihe von Angaben in den Medien veröffentlicht und diskutiert werden, die bisher dem Geheimnisschutz unterlagen.