Reaktionen auf Gespräch zwischen Egon Krenz und Bischof Leich
23. Oktober 1989
Information Nr. 470/89 über erste Reaktionen evangelischer kirchenleitender Amtsträger zum Gespräch des Generalsekretärs des ZK der SED, Genossen Egon Krenz, mit Bischof Leich und weiteren kirchenleitenden Personen am 19. Oktober 1989
Streng internen Hinweisen zufolge fand unmittelbar nach Rückkehr des Vorsitzenden der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR (KKL), Bischof Leich,1 und seiner Begleiter (Bischof Demke,2 Konsistorialpräsident Stolpe,3 Oberkirchenrat Ziegler4) vom Gespräch mit dem Generalsekretär des ZK der SED, Genossen Egon Krenz,5 im Gebäude des Sekretariats des Bundes der Evangelischen Kirchen (BEK) in der DDR eine Beratung der in Berlin anwesenden Mitglieder der KKL und anderer leitender Amtsträger aus den evangelischen Landeskirchen statt.
Daran nahm auch der Leiter der Berliner Stelle des kirchlichen Außenamtes der »Evangelischen Kirche in Deutschland« (EKD), Oberkirchenrat Heidingsfeld,6 Westberlin, teil.
Durch Bischof Leich wurde über den Verlauf des Gespräches informiert und eine erste kurze Wertung vorgenommen. Er verwies auf die Symbolik des Gesprächs und appellierte an die Synoden der Gliedkirchen des Bundes, an ihre bevorstehenden Herbsttagungen »maßvoll heranzugehen« sowie sofort Einfluss auf eine Mäßigung, Reduzierung bzw. Einstellung öffentlichkeitswirksamer Aktivitäten zu nehmen mit dem Ziel, Menschenansammlungen von der Straße weg zu bekommen.
Während der Beratung mit kirchenleitenden Amtsträgern betonte Bischof Leich ferner, öffentlichkeitswirksame Aktionen auf der Straße seien gegenwärtig »der größte Unsicherheitsfaktor, ob und wie die neue Situation angenommen wird«.7 Er orientierte auf eine »Denk- und Verschnaufpause« und äußerte, es müsse das nächste ZK-Plenum, das weitere Veränderungen und möglicherweise neue Festlegungen im personellen Bereich bringen würde, abgewartet werden. Man rechne damit, dass erste erkennbare Konturen einer neuen Politik bis Ende November vorhanden sind; deshalb soll am 1. Dezember 1989 eine außerordentliche Tagung der KKL stattfinden.8
Im weiteren Verlauf der Beratung wurde einer Schnellinformation des Sekretariats des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, in der eine sachliche Darstellung der vorgetragenen kirchlichen Positionen im Gespräch gegeben wurde, zugestimmt. (Der Wortlaut der Schnellinformation wird als Anlage beigefügt.)
Bischof Leich erklärte dazu, die Schnellinformation habe im Unterschied zu früher erarbeiteten Informationen eine neue Qualität erhalten; bewusst seien Äußerungen des staatlichen Gesprächspartners nicht wiedergegeben worden, um Vertraulichkeit zu wahren, ihn nicht in Zugzwang zu bringen bzw. um Zensierungen seiner Darlegungen zu vermeiden.
Ferner führte Bischof Leich aus, wenn Genosse Krenz seinen guten Einstieg untermauern wolle, sei die sofortige Aufnahme der abgesagten Sachgespräche mit der evangelischen Kirche in der DDR dringend erforderlich.9 Man erwarte in diesem Zusammenhang von staatlicher Seite, dass auch das im September nicht durchgeführte Gespräch zu den Ergebnissen der KSZE-Nachfolgekonferenz in Wien10 und der Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses der Staaten des Warschauer Vertrages in Bukarest11 in einer neuen Qualität durchgeführt werde. Er verstehe darunter eine Erweiterung des Themas durch Einbeziehung der Problematik »menschliche Dimension« der KSZE-Vereinbarungen. Das Gespräch sei nur dann sinnvoll, wenn die außenpolitischen Probleme mit innenpolitischen Fragen verbunden und als Einheit behandelt würden. Die ausschließliche Anwesenheit von Vertretern des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten an einem solchen Gespräch habe keinen Sinn. Es sei unabdingbar, dass bei erweiterter Thematik die dafür wichtigsten Ministerien – MfAA, MdI, MfS – teilnehmen werden.
Weiteren streng internen Hinweisen zufolge zeigte sich Bischof Leich in einer noch kleineren vertraulichen Gesprächsrunde am Abend des 19. Oktober 1989 erleichtert darüber, dass es zum Gespräch mit dem neuen Generalsekretär gekommen sei. Hätte dies mit dessen Vorgänger stattgefunden, wäre er mit vielen Vorbehalten und ohne Hoffnung auf Ergebnisse erschienen.
Diese Situation sei durch die sofortige Gesprächsbereitschaft des Genossen Krenz mit der Kirchenleitung unmittelbar nach Übernahme seiner neuen Funktion schlagartig verändert worden.12 Er – Leich – habe sofort einen »inneren Draht«13 zu ihm gefunden. Der Generalsekretär sei nach seiner Einschätzung ein Mann der Tat, gerade und offen. Dies alles entspräche seinem eigenen – Leichs – Charakter.14
In diesem internen Gespräch wurde die Absicht kirchenleitender Amtsträger bekundet, über vorhandene Kanäle verstärkt Einfluss auf hörbereite BRD-Politiker, wie z. B. Schäuble15 und Seiters,16 nehmen zu wollen. Die Genannten seien am ehesten bereit, den Erwartungen der DDR gegenüber der BRD entgegenzukommen.
Des Weiteren solle versucht werden, der Sensationsberichterstattung der westlichen Massenmedien entgegenzuwirken.
Erörtert wurde weiter, im Kontext der Gesamtentwicklung bekomme die bevorstehende Ehrenpromotion von Konsistorialpräsident Stolpe am 14. November 1989 in Greifswald eine neue Dimension. Es sei unumgänglich, dass Stolpe in Erwiderung der Laudatio programmatische Aspekte der zukünftigen Gestaltung des Verhältnisses Kirche – Staat darlege.17 Man hoffe, dass der Staat das verstehe und entsprechend registriere.
In dieser vertraulichen Gesprächsrunde tauschten sich ferner Beteiligte zur Teilnahme der Genossen Jarowinsky18 und Frank-Joachim Herrmann19 am Gespräch des Genossen Krenz mit Bischof Leich aus. Genosse Herrmann sei mit ungewohnter Flexibilität und neu nuancierter Sprache aufgefallen. Er habe »ganz moderne«, der Situation entsprechende Redefloskeln eingebracht, was darauf hindeute, dass er sich der neuen Lage angepasst habe und »seine Haut retten« wolle. Die Teilnahme von Genossen Jarowinsky wurde als unpassend eingeschätzt; schließlich sei er als Politbüromitglied verantwortlich dafür, dass es zu solchen Spannungen zwischen Staat und Kirche gekommen sei. Man habe Genossen Jarowinsky als klugen und gebildeten Menschen kennengelernt, aber man habe auch feststellen müssen, dass er kein Mann der Tat und der Entscheidung sei.
Es wurde als erstrebenswert bezeichnet, wenn dem noch zu benennenden Nachfolger für Genossen Krenz in dessen ehemaliger Funktion als Sekretär des ZK der SED wieder der Bereich Kirchen und Religionsgemeinschaften20 zugeordnet werde, wie das in der Amtszeit des Genossen Verner,21 die man noch in guter Erinnerung habe, der Fall gewesen sei. Der personellen Besetzung dieser Position messe man größte Bedeutung bei, da dies Signalcharakter für die weitere politische Linie habe.22
Für die Kirche werde zu berücksichtigen sein, dass Genosse Krenz klar den Rahmen des kirchlichen wie auch gesellschaftsbezogenen Handelns abgesteckt habe: Glasnost – ja,23 Sozialismusdiskussion – nein.24 Diese Linie könne die Kirche mitvollziehen.
Auch im Sekretariat des BEK wurde eine erste Wertung des Gesprächs vorgenommen. Die kurzfristige Übernahme der Gesprächsführung durch Genossen Krenz wurde als Zeichen für einen weiteren gemeinsamen Weg von Staat und Kirche in der DDR bezeichnet. Erstaunt zeigten sich einige kirchliche Amtsträger über die Sachkenntnis des Genossen Krenz in Kirchenfragen. Sie betonten, seine unkomplizierte Art, Probleme anzusprechen bzw. Antworten zu geben, sei positiv registriert worden. Dagegen sei seine Rede am 18. Oktober 1989 im Fernsehen der DDR nicht so gut angekommen;25 es wäre besser gewesen, wenn er dort ebenso frei und ungezwungen gesprochen hätte.
Auf der Grundlage der Schnellinformation des Sekretariats des BEK erfolgten bereits am 19. Oktober 1989 abends erste Auswertungen in kirchlichen Veranstaltungen, so z. B. innerhalb der 669. Berliner Bibelwoche der Evangelischen Kirche der Union – Bereich DDR – (innerkirchliche Weiterbildungsveranstaltung).26 Dort wurde neben Sachinformationen zum Gesprächsverlauf hervorgehoben, dass es sich um ein Gespräch in einem offenen Klima gehandelt habe und Genosse Krenz ein sehr hörbereiter Gesprächspartner gewesen sei.
Die Information ist wegen äußerster Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.
Anlage zur Information Nr. 470/89
[Kopie einer Schnellinformation des Sekretariats des BEK v. 19.10.1989]
Sekretariat A 5521–2- /89 | Bund | der | Evangelischen | Kirchen | in der Deutschen Demokratischen Republik | 1040 Berlin, den 19. Oktober 1989 | Auguststraße 80, Telefon 2886
An die Empfänger der Schnellinformation des Bundes
Schnellinformation des Sekretariats des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR
Aufgrund einer bereits früher getroffenen Terminverabredung empfing der Stellvertretende Vorsitzende des Staatsrates der DDR und neugewählte Generalsekretär des Zentralkomitees der SED Egon Krenz am 19. Oktober 1989 den Vorsitzenden der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR, Landesbischof Dr. Werner Leich, im Schloss Hubertusstock zu einem Gespräch. Über diese Begegnung wird eine Pressemitteilung veröffentlicht, die wir in der Anlage beifügen.27
Ergänzend dazu teilen wir zur innerkirchlichen Unterrichtung eine Zusammenfassung der Gesprächsbeiträge der kirchlichen Vertreter mit. Der Vorsitzende der Konferenz hob einleitend hervor, dass das heutige Gespräch vor dem Wechsel im Amt des Staatsratsvorsitzenden verabredet worden und inhaltlich durch den Brief der Konferenz an den Vorsitzenden des Staatsrates vom 2.9.1989 sowie die Beschlüsse der Bundessynode vom 19.9.198928 vorbereitet sei. Die Vertreter der Kirchen kämen weder als Schmeichler noch als Besserwisser. Sie kämen im Wissen um ihre Mitverantwortung für die Wahrung der von Gott gegebenen Würde aller Menschen.
Es gehe gegenwärtig vor allem darum, Hoffnung und Vertrauen29 wiederzugewinnen. Das Vertrauen sei in den letzten Wochen und Monaten empfindlich gestört worden durch Verweigerung offener und öffentlicher Aussprachen, durch eine wirklichkeitsferne Medienpolitik, vor allem aber durch Gewaltanwendung bei Demonstrationen und das Vorgehen bei Zuführungen vor dem 9.10.[1989],30 das noch restlos aufgeklärt werden müsse. Das schmerzlichste Zeichen des Vertrauensschwundes sei die Ausreise von Tausenden von Bürgern.31
Nötig seien schnelle Entscheidungen und Zeichen, dass die beabsichtigten Veränderungen tatsächlich verwirklicht würden. Dazu gehöre das offene und öffentliche Gespräch auch mit den Gruppierungen, die sich in letzter Zeit gebildet hätten. Dafür sollten Räume zur Verfügung gestellt und neue Plattformen gesucht werden, weil sich die traditionellen Gesprächsforen für viele als nicht akzeptabel herausgestellt hätten. Je offener und wahrhaftiger der Dialog sei, desto eher würde der Drang zu Demonstrationen auf der Straße abnehmen. Die Ausstellung eines Reisepasses für alle Bürger, ein eindeutiges Wahlverfahren, weitere Ausgestaltung der Rechtsstaatlichkeit und Weiterentwicklung der Rechtsordnungen sowie die klare Unterscheidung der Zuständigkeiten von Partei und Regierung wären solche Zeichen. In der Aufarbeitung der Ausreiseproblematik sollte die Überlegung mit aufgenommen werden, wie ehemaligen DDR-Bürgern eine unkomplizierte Rückkehrmöglichkeit eröffnet werden könne.
Die Kirchen hielten nach wie vor ein Gespräch über das Bildungswesen und über den Einsatz von Wehrpflichtigen im Gesundheitswesen und anderen zivilen Bereichen für notwendig.
Die Aufzählung dieser Wünsche solle nicht als Forderungskatalog besserwisserischer Zuschauer verstanden werden. Die Probleme würden im Wissen um die Mitverantwortung der Kirchen angesprochen. Auch die Kirche wünsche keine den Frieden in Europa gefährdende Instabilität in unserem Lande. Gerade deshalb aber seien Veränderungen dringend notwendig. Das wurde von den Vertretern der Kirche ausgesprochen in dem Wissen, dass jeder, der ein so verantwortliches Amt neu übernehme, auch Zeit brauche zur Verwirklichung seiner Pläne. Es sei für die Kirchen kein formaler Akt, wenn in den Gottesdiensten für die Verantwortlichen in Staat und Gesellschaft gebetet würde. Die Gebete schlössen den in besonderer Weise ein, der in unserem Land jetzt höchste Verantwortung übernommen habe.
Das Gespräch verlief in einer aufgeschlossenen Atmosphäre.
Die Gastgeber gingen auf alle Fragen ein, ohne schon konkrete Entscheidungen zu benennen. Das Gespräch gab auch Gelegenheit zu konkreten Überlegungen über Lösungen einzelner Probleme, wie etwa die Regelungen der Reisemöglichkeiten und die Öffentlichkeitsarbeit.
Nicht zur Veröffentlichung | USB.-Nr. 1055/8932