Reaktionen der Bevölkerung auf Entwicklung in Osteuropa
2. März 1989
Hinweise über einige beachtenswerte Aspekte der Reaktion der Bevölkerung auf Veröffentlichungen in den Medien der DDR über Entwicklungstendenzen in sozialistischen Staaten [Bericht O/215]
Vorliegenden Hinweisen aus den Bezirken und der Hauptstadt der DDR, Berlin, zufolge werden Veröffentlichungen in den Medien der DDR über Entwicklungstendenzen und -probleme in sozialistischen Ländern von breiten Bevölkerungskreisen mit großer Aufmerksamkeit und Interesse verfolgt. Sie sind Anlass für vielfältige Diskussionen, die an Umfang und Intensität weiter zunehmen.
Bestimmenden Einfluss auf die differenzierte Meinungsbildung dazu hatten Informationen über die Lebenslage der Werktätigen, Erscheinungen des Nationalismus1 sowie über zunehmende Aktivitäten feindlich-negativer Kräfte insbesondere in der UdSSR, der Volksrepublik Polen und der Ungarischen Volksrepublik.2
Generell ist festzustellen, dass die Zahlenangaben über die unterhalb der Armutsgrenze lebenden Bürger der UdSSR und der Ungarischen VR sowie über das »Arbeitslosenheer« in der Ungarischen VR Besorgnis,3 Unsicherheit und tiefe Betroffenheit ausgelöst haben und zum Teil als schockierend bezeichnet werden.
Vielfach werden auch Vergleiche zur Situation in der DDR angestellt, wobei die politische und soziale Stabilität und die auf diesem Gebiet erbrachten Leistungen Anerkennung finden. Dennoch lassen zahlreiche Diskussionen Besorgnis erkennen, dass die inneren Probleme einiger sozialistischer Länder eine Abkehr vom Sozialismus darstellen und auch negative Auswirkungen auf die gesellschaftliche Entwicklung in der DDR haben könnten. Sie würden sich in ihrer Gesamtheit hemmend auf die Einheit und Geschlossenheit der Staaten der sozialistischen Gemeinschaft auswirken. Die Frage nach der Sieghaftigkeit und Perspektive des Sozialismus würde sich prinzipiell neu stellen.
Häufig werden Fragen gestellt, wie es zu einer solchen Entwicklung kommen konnte und warum in den Medien der DDR erst jetzt darüber informiert werde. Es sei der Eindruck entstanden, man habe jahrelang ein unreales Bild über die gesellschaftliche Entwicklung in den sozialistischen Ländern vermittelt bekommen.
Mitglieder der SED äußern, dass sie auf die diesbezüglich immer wieder gestellten Fragen der Werktätigen nicht überzeugend argumentieren können. Sie selbst seien äußerst besorgt über diese Entwicklung in den sozialistischen Staaten, fänden aber allein in den kommentarlosen Informationen dazu auch keine erschöpfende Antwort auf ihre Fragen. In diesem Sinne fühle man sich von den Funktionären der Partei allein gelassen.
Des Öfteren wird von progressiven Kräften, darunter von Pädagogen, die Richtigkeit und Zweckmäßigkeit der Veröffentlichung solcher Meldungen angezweifelt, da sie die Nachweisführung über die Vorzüge und Perspektivhaftigkeit des Sozialismus gegenüber jungen Menschen erheblich erschwere.
Nach wie vor wird der Umgestaltungsprozess in der UdSSR mit großer Anteilnahme verfolgt und damit die Hoffnung auf ein weiteres Erstarken der sozialistischen Gesellschaftsordnung verbunden.4 Häufig wird dazu auch die Auffassung vertreten, dass mit der Umgestaltung der einzig gangbare Weg zur Überwindung der Stagnation der gesellschaftlichen Entwicklung in der UdSSR eingeschlagen worden sei. Die Ehrlichkeit in der Selbstdarstellung der Probleme würde den Beziehungen zur UdSSR weitere Impulse verleihen.
Dennoch äußert sich eine Vielzahl von Bürgern, darunter auch Angehörige der Intelligenz, Studenten, Lehrlinge, Arbeiter, Angestellte und Leitungskader aus Kombinaten und Betrieben sowie Mitarbeiter staatlicher Organe zentraler und territorialer Ebene, zurückhaltender und kritischer zum Umgestaltungsprozess.
Veröffentlichungen über sich zuspitzende nationale Konflikte in der UdSSR, Einschätzungen des ZK der KPdSU über den nicht planmäßigen Verlauf des Umgestaltungsprozesses insgesamt, insbesondere aber bezogen auf die nicht ausreichende aktive Teilnahme der Werktätigen am gesamten Prozess sowie auf die angestrebte Stabilisierung und Intensivierung volkswirtschaftlicher Prozesse, und Informationen über die allgemeine Lebenslage der Werktätigen, vor allem über die Existenz von 43 Millionen Sowjetbürgern unterhalb der Armutsgrenze, trugen wesentlich zur Versachlichung von Standpunkten und Meinungs-äußerungen bei. Das äußert sich u. a. darin, dass vordergründige Forderungen nach Übernahme bzw. Anwendung von Orientierungen und Maßnahmen im Rahmen der Umgestaltung auf die gesellschaftliche Entwicklung in der DDR, wie sie hauptsächlich von Angehörigen der Intelligenz in der Vergangenheit erhoben wurden, in Meinungsäußerungen kaum noch eine Rolle spielen.
Nach wie vor findet jedoch das offene und kritische Aufzeigen vorhandener Probleme und Mängel durch die Partei- und Staatsführung der UdSSR breite Zustimmung.
Mit zunehmender Besorgnis und starken Vorbehalten äußert sich der o. g. Personenkreis zu Entwicklungsprozessen in der VR Polen und der Ungarischen VR. In der Einführung von Prinzipien der kapitalistischen Marktwirtschaft, der Aufgabe des Grundsatzes der Vollbeschäftigung, der Gestattung der Gründung größerer privater Wirtschaftsunternehmen sowie der Zulassung von Gewerkschaftspluralismus und Legalisierung – einschließlich politischer Zugeständnisse – der Gewerkschaft »Solidarność«5 wird eine grundsätzliche Abkehr von allgemeingültigen Prinzipien des sozialistischen Aufbaus gesehen, wodurch die weitere Entwicklung der sozialistischen Gesellschaftsordnung in diesen Ländern ernsthaft in Frage gestellt sei.
Es entstehe der Eindruck, dass die kommunistischen Parteien und die Regierungen in der Ungarischen VR und VR Polen die Lage nicht mehr beherrschen. Die auf eine Stabilisierung der Situation gerichteten zentralen Maßnahmen werden als nicht wirksam bewertet und abgelehnt. Offensichtlich werde versucht, mithilfe kapitalistischer Methoden aus der wirtschaftlichen Misere herauszukommen. Die Anwendung kapitalistischer Produktionsmethoden könne man aber nicht mit nationalen Besonderheiten in der Entwicklung rechtfertigen.
Mit besonderem Nachdruck wird auch darauf verwiesen, dass diese Entwicklungsprozesse spürbar negative Auswirkungen zeigen auf die Lebenslage der Werktätigen. Das Leben breiter Teile der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze sowie die Existenz eines »Arbeitslosenheeres« wird als nicht vereinbar mit dem Wesen einer sozialistischen Gesellschaftsordnung bewertet.
Darüber hinaus seien in diesen Staaten im Zuge der Umgestaltung begünstigende Bedingungen für das verstärkte Wirksamwerden feindlich-negativer Kräfte bis hin zur Legalisierung feindlich-negativer, antisozialistischer Gruppierungen entstanden.
Immer wieder wird in diesem Zusammenhang auf das Wiedererstarken der Gewerkschaft »Solidarność« in der VR Polen verwiesen. Auf Unverständnis und Ablehnung stößt die Haltung der PVAP und der polnischen Regierung zu diesem Prozess. Die Kontakt- und Gesprächsaufnahme mit Vertretern der »Solidarność« werden mehrheitlich als Bankrotterklärung an die bisherige Regierungspolitik in der VR Polen bewertet.
Vielfach befürchten Werktätige mögliche negative Auswirkungen der inneren Probleme sozialistischer Länder auf die planmäßige gesellschaftliche Entwicklung in der DDR.
Dabei gehen sie davon aus, dass in der DDR eine planmäßige und stabile Entwicklung vollzogen worden ist und – trotz zahlreicher Hemmnisse und Unzulänglichkeiten im Alltag – ein relativ hoher Reifegrad der sozialistischen Gesellschaft erreicht wurde. Ihrer Auffassung nach bestünde die Gefahr, dass die DDR aufgrund der bestehenden Verflechtungen zwischen den sozialistischen Staaten, insbesondere auf ökonomischem Gebiet, die Probleme der Bruderländer mittragen müsse, wodurch es zu Einschränkungen in der konsequenten Weiterführung der Politik der Hauptaufgabe kommen könnte.
Vereinzelt wird auch die Frage gestellt, ob die Beiträge in den Medien der DDR über die wirtschaftliche Situation in den sozialistischen Staaten darauf hinweisen sollen, dass auch DDR-Bürger »den Gürtel bald werden enger schnallen müssen«. Die offene Darlegung der inneren Schwierigkeiten wie Preissteigerung, inflationäre Tendenzen, Arbeitslosigkeit, Mangelerscheinungen werden zum Teil als »Einstimmung« für die auch in der DDR zu erwartenden Probleme gewertet. Gleichzeitig werde mit diesen Veröffentlichungen aber auch, so wird geäußert, das Ziel verfolgt, aufzuzeigen, wie gut es den DDR-Bürgern im Vergleich zu denen in den sozialistischen Nachbarstaaten eigentlich gehe.
In zunehmendem Maße wird die Auffassung vertreten, dass sich die inneren Entwicklungsprobleme der sozialistischen Länder, vor allem auf ökonomischem Gebiet, nachhaltig negativ auf die internationale Ausstrahlungskraft des Sozialismus insgesamt auswirken. Das abgestimmte Wirken der sozialistischen Länder reduziere sich ihrer Meinung nach immer stärker auf die Friedens- und Abrüstungsproblematik.
Beachtenswert in diesem Zusammenhang ist, dass insbesondere Angehörige der Intelligenz und studentische Personenkreise mit derartigen Auffassungen in Erscheinung treten. In einem breiten Meinungsspektrum werden von ihnen neben Sorge zunehmend auch Skepsis bis hin zu Zweifeln über die stabile Entwicklung der sozialistischen Staaten in der Perspektive zum Ausdruck gebracht, wobei derartige Standpunkte hauptsächlich mit Meinungen untermauert werden, dass
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das sozialistische Lager seine Entwicklungsfähigkeit und Überlegenheit im wissenschaftlich-technischen Bereich gegenüber den kapitalistischen Industriestaaten in der Praxis nicht nachgewiesen habe,
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die Vorstellungen vom Überholen der führenden kapitalistischen Industriestaaten auf ökonomischen Gebiet immer illusionärer werden würden,
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die wirtschaftliche Entwicklung in den meisten sozialistischen Ländern stagniere bzw. rückläufig sei,
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zwischen den sozialistischen Staaten aufgrund unterschiedlicher ökonomischer Ergebnisse immer stärkere Widersprüche auftreten würden, die letztlich zu einer Anlehnung einzelner Staaten an das kapitalistische Wirtschaftssystem führen.
Häufig wird in diesem Zusammenhang auch die Auffassung vertreten, die ökonomischen Probleme in den sozialistischen Ländern seien Auswirkungen des verstärkten Drucks seitens des Imperialismus und damit die Frage verbunden, ob diese Situation die Richtigkeit der These westlicher Politiker vom »Totrüsten des Sozialismus« belege.
Vorliegenden Hinweisen zufolge werden diesbezügliche Probleme von Studenten an Hoch- und Fachschulen in zunehmendem Maße auch im Rahmen des marxistisch-leninistischen Grundlagenstudiums aufgeworfen, wobei nach Meinung der Lehrkräfte diese Fragen immer zwingender gestellt werden. Vielfach wird dabei auch die grundsätzliche Forderung nach mehr Raum für »offene Sozialismusdiskussionen« erhoben und die Auffassung vertreten, dass nur »über den wissenschaftlichen Meinungsstreit wirksame, den Sozialismus insgesamt voranbringende Lösungen erreichbar« seien. In nicht geringem Umfang schätzen Studenten ein, dass Lehrkräfte einem Meinungsstreit zu den aufgeworfenen Problemen und Fragen ausweichen, sich zum Teil in Allgemeinplätze flüchten.
Vielfach wird ihnen die Fähigkeit abgesprochen, überzeugend argumentieren zu können.