Reaktionen der Bevölkerung auf Flucht und Ausreise
13. September 1989
Hinweise auf die Reaktion der Bevölkerung im Zusammenhang mit der ständigen Ausreise von Bürgern aus der DDR bzw. dem ungesetzlichen Verlassen der DDR [Bericht O/224]
Die Problematik der ständigen Ausreise von Bürgern der DDR in das nichtsozialistische Ausland sowie des ungesetzlichen Verlassens der DDR bildet einen wesentlichen Schwerpunkt in der Reaktion der Bevölkerung.1 Die Entwicklung der Lage auf diesem Gebiet hat unter großen Teilen der Bevölkerung, vor allem aber unter progressiven Kräften, Besorgnis und Beunruhigung bis hin zu Verunsicherung ausgelöst.
Von vielen progressiven Kräften, insbesondere von Werktätigen aus Großbetrieben sowie von Mitarbeitern staatlicher und wirtschaftsleitender Organe und Angehörigen der Intelligenz, wird zunehmend die Erwartung geäußert – teilweise trägt dies Forderungscharakter –, dass sich die Partei- und Staatsführung tiefgründig und umfassend mit den Ursachen und begünstigenden Bedingungen dieser Entwicklung beschäftigt und schnellstmöglich Maßnahmen einleitet, die zur Überwindung bestehender Probleme in der DDR führen.
Sie verweisen in diesem Zusammenhang auf in allen Bevölkerungskreisen zunehmende Auffassungen, dass man angesichts der »Massenflucht« von DDR-Bürgern, der hohen und offenbar weiter steigenden Anzahl von Antragstellungen auf ständige Ausreise und damit verbundenen Ausreisen und der Entwicklung des ungesetzlichen Verlassens der DDR, insbesondere unter Ausnutzung des Reiseverkehrs, Angst vor der Zukunft haben müsse.
Es sei zu befürchten, dass sich dadurch die vorhandenen Probleme in der DDR weiter zuspitzen und es zu einer weiteren Verschlechterung der Stimmungslage der Bevölkerung komme.
Mit großer Besorgnis wird auch die Frage gestellt, ob die DDR angesichts der ohnehin angespannten Arbeitskräftesituation eine Verringerung des gesellschaftlichen Arbeitskräftepotenzials, vor allem im Hinblick auf den Weggang einer großen Zahl von Hoch- und Fachschulkadern sowie Facharbeitern, in diesem Umfang volkswirtschaftlich verkraften könne.
Dies treffe besonders zu auf Bereiche der materiellen Produktion sowie Forschung und Entwicklung, Handel/Versorgung und Dienstleistungen einschließlich des Gaststättenwesens sowie in besonderem Maße auf das Gesundheitswesen.
Leitungskader und Mitarbeiter, vor allem aus den genannten Bereichen schätzen ein, dass bei weiteren ständigen Ausreisen entsprechend der gegenwärtigen Praxis und bei weiter anhaltendem ungesetzlichen Verlassen unter Ausnutzung besonders des Reiseverkehrs erhebliche Abstriche an gestellten Aufgaben und Leistungszielen unumgänglich seien, die weitreichende negative Folgen besonders auf sozialpolitischem Gebiet und bei der medizinischen Grundbetreuung der Bevölkerung hätten. Insbesondere Mitarbeiter in medizinischen Einrichtungen erklären unter Hinweis auf den »Abgang« qualifizierten medizinischen Personals, bereits jetzt solchen enormen Belastungen ausgesetzt zu sein, denen auf Dauer physisch und psychisch nicht standzuhalten sei. Dies schaffe neue Anlässe für Antragstellungen auf ständige Ausreise bzw. für das ungesetzliche Verlassen.
Immer wieder wird Unverständnis geäußert, dass so viele Bürger, vor allem Jugendliche und Jungerwachsene, ihre gesicherte soziale Existenz in der DDR aufgeben und ins Ungewisse fahren.
Sehr häufig wird in diesem Zusammenhang, besonders von vielen älteren Bürgern, darunter von Mitgliedern der SED, die Frage gestellt, warum hauptsächlich junge Menschen, die doch im Sozialismus aufgewachsen und erzogen wurden, in der DDR umfassende soziale Unterstützung und Förderung erfahren haben, glauben, ihre persönlichen Perspektiven nur unter kapitalistischen Verhältnissen verwirklichen zu können.
Nahezu übereinstimmend wird in diesem Zusammenhang die Auffassung vertreten, es seien in der politisch-ideologischen Erziehung der Jugend Fehler gemacht und Mängel zugelassen worden.
Eine Ursache sei darin zu sehen, dass der Jugend in der Schule und während der Berufsausbildung ein »Idealbild« vom Sozialismus vermittelt werde, das beim Eintritt in das Berufsleben mit der Praxis und dem Alltagsleben nicht mehr übereinstimme. Die dadurch auftretenden Probleme würden, maßgeblich mit zurückzuführen auf die fortgesetzte Einflussnahme seitens westlicher Massenmedien, von jungen Menschen häufig als Widerspruch zwischen Theorie und Praxis empfunden.
Die für die Jugend wirksamen sozialpolitischen Maßnahmen würden oft als Selbstverständlichkeit angesehen, die erreichten und geschaffenen materiellen und ideellen Werte des Sozialismus oft nicht genügend geschätzt. Es sei eine starke Orientierung an materiellen Werten festzustellen. Diese jungen Menschen sähen dann offenbar im Verlassen der DDR die einzige Chance zur Erfüllung ihrer Wünsche.
Ältere Bürger äußern, sie hätten unter komplizierten Bedingungen und auch unter persönlichen Entbehrungen an der Gestaltung des Sozialismus in der DDR aktiv mitgewirkt, ohne von Partei und Staat in einem mit der Jugend vergleichbaren Maße sozialpolitisch gefördert und unterstützt worden zu sein.
In den sehr umfangreich und häufig sehr heftig geführten Diskussionen zu den Ursachen und begünstigenden Bedingungen für diese gesamte Entwicklung wird mehrheitlich zum Ausdruck gebracht, die eigentlichen Ursachen lägen in der seit Langem angestauten Unzufriedenheit breitester Teile der Bevölkerung mit einer Vielzahl ungelöster Probleme im Arbeits-, Wohn- und Freizeitbereich, in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen.
Zwar sei auf zentraler Ebene eine Vielzahl Beschlüsse zu deren Beseitigung gefasst worden, diese hätten jedoch keine spürbaren Veränderungen gebracht. Das habe in beachtlichem Umfang zu Auffassungen/Haltungen geführt, es ändere sich auf lange Sicht nichts für den Bürger, die Partei- und Staatsführung kenne nicht die Probleme, die die Bevölkerung bewegen.
In der Mehrzahl der Diskussionen und Meinungsäußerungen wird dabei ein enger Zusammenhang hergestellt zu den immer wieder genannten Hauptgründen für die Entschlussfassung zum ungesetzlichen Verlassen der DDR bzw. zur Antragstellung auf ständige Ausreise.
Als Hauptgründe werden genannt:
1. Probleme in der Versorgung der Bevölkerung
In beachtlichem Umfang wird die Auffassung vertreten, die Bedürfnisse der Bevölkerung – bezogen auf die Versorgung, die Dienstleistungen und die medizinische Grundversorgung – würden nur unzureichend befriedigt.
Insbesondere die »gravierenden« Mängel hinsichtlich der bedarfs-, sortiments- und qualitätsgerechten Bereitstellung von Waren, die als unerträglich empfundenen Wartezeiten für den Neuerwerb von Pkw,2 die »indiskutable« Versorgung mit Ersatzteilen sowie die ständigen Mängel im Sortiment »1 000 kleine Dinge« hätten dazu geführt, dass der Sozialismus im Vergleich zum Kapitalismus als »nicht attraktiv« bewertet wird. Vielfach werden derartige Auffassungen durch Eindrücke von Reisen in die BRD und nach Westberlin sowie durch den fortgesetzten Empfang westlicher Medien, in denen die westliche Lebensweise und das Konsumangebot verherrlicht werden, noch bekräftigt.
Zunehmend wird – teilweise in sehr abfälliger Form – darüber gesprochen,
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dass Bürger der DDR, die legal oder durch Spekulation und Korruption im Besitz konvertierbarer Währung sind, ihre Bedürfnisse relativ leicht und ohne Leistungsäquivalent befriedigen könnten und dass es auch noch anderweitig »privilegierte« Bürger gebe,
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dass dagegen die Bürger, die derartige »Vorteile« nicht hätten, mit den vorhandenen Problemen und Mängeln leben müssten.
2. Die vielfältigen komplizierten Probleme in der Volkswirtschaft
Unzulänglichkeiten im Produktionsprozess, hauptsächlich unkontinuierliche Materialzulieferungen und damit verbundene Störungen des Produktionsrhythmus, der physisch und moralisch verschlissene Zustand von Maschinen, Anlagen, Produktionsgebäuden, von Transport- und Landtechnik, bilden für die Werktätigen immer mehr Anlass für sich verschärfende kritische Diskussionen.
Dabei werden zunehmend Auffassungen vertreten, dass die Ursachen dafür in einer nicht den Anforderungen entsprechenden und unzureichenden Effektivität der Wirtschaftsführung lägen, die sozialistische Planwirtschaft nicht genügend funktioniere, Produktionsprozesse nicht selten nur noch mit operativen Entscheidungen aufrechterhalten werden könnten. Der Aufwand zur operativen Beschaffung notwendiger Maschinen, Ausrüstungen und Materialien für Industrie und Landwirtschaft werde immer größer.
Mit Nachdruck wird verwiesen auf negative Auswirkungen von fehlenden bzw. schleppend realisierten Investitionen zur Reproduktion von Produktions- und Grundmitteln in den Kombinaten und Betrieben.
Einen absoluten Schwerpunkt in den Diskussionen bilden Probleme der Anwendung und Durchsetzung des Leistungsprinzips in allen gesellschaftlichen Bereichen. Die strikte Durchsetzung des sozialistischen Leistungsprinzips wird dabei als entscheidende Voraussetzung für die Verbesserung der Lage in der Volkswirtschaft angesehen.
Von Wirtschaftskadern in Kombinaten und Betrieben wird dahingehend argumentiert, unser gesamtes ökonomisches System sei nicht zwingend genug auf Leistung orientiert. Die Notwendigkeit einer strikten Anwendung des Leistungsprinzips sei zwar theoretisch begründet, es werde aber nicht genügend praxiswirksam.
Die angewandten Bewertungsmaßstäbe für erbrachte Leistungen seien nicht wirksam genug. Eine effektive Stimulierung zu hohen Arbeitsergebnissen fehle häufig. Verbreitet sei es so, dass jeder sein Geld bekomme, ob er viel oder wenig gearbeitet habe. Negative Auswirkungen dieser Situation zeigten sich immer deutlicher in abnehmender Leistungsbereitschaft und nachlassender Arbeitsdisziplin, insbesondere bei Jugendlichen, sowie in einer zunehmenden Scheu bei Werktätigen, Verantwortung zu übernehmen.
Insbesondere im Zusammenhang mit der Vorbereitung des XII. Parteitages der SED3 bestehen in ausgeprägter Form Erwartungshaltungen hinsichtlich zwingender Maßnahmen zur Anwendung und Durchsetzung des Leistungsprinzips in allen gesellschaftlichen Bereichen.
3. Reisemöglichkeiten von DDR-Bürgern
Die bestehenden Reisemöglichkeiten für DDR-Bürger werden in breiten Teilen der Bevölkerung als unbefriedigend bewertet, wobei in erster Linie Vergleiche angestellt werden zu Reisemöglichkeiten für BRD-Bürger.
Hauptsächlich Jugendliche äußern Unzufriedenheit bezüglich beschränkter Reisemöglichkeiten in das nichtsozialistische Ausland. Sie wollen nicht erst »bis zur Rente warten«, argumentieren sie, um in andere Länder reisen zu können.4
Es wird aber auch verwiesen auf großzügigere Regelungen, die in anderen sozialistischen Staaten im Ergebnis des KSZE-Prozesses eingeführt worden seien.5
Emotional geprägt äußern sich viele DDR-Bürger nach Reisen in andere sozialistische Staaten, dass sie sich dort als Menschen 2. Klasse behandelt fühlten, sowohl hinsichtlich der gebotenen Leistungen als auch angesichts einer nachlassenden Wertschätzung ihnen gegenüber im Vergleich zu BRD-Bürgern. Typische Meinung: Was können wir dafür, wenn unsere Währung kein Ansehen im Ausland genießt.
4. Der Stand der Entwicklung der sozialistischen Demokratie
Die Formen der realen Mitwirkung und Einflussnahme der Bürger bei staatlichen Entscheidungen auf zentraler Ebene und im kommunalen Bereich werden häufig als unzureichend empfunden und deshalb kritisiert. Schöpferkraft und Initiative würden vielfach gehemmt durch zu viel Administration und Gängelei seitens staatlicher Organe.
Darüber hinaus wird in den Meinungsäußerungen auf sich häufende Erscheinungen eines bürokratischen und herzlosen Verhaltens von Leitern und Mitarbeitern staatlicher Organe bzw. von Betrieben und Einrichtungen gegenüber den Bürgern im Zusammenhang mit der Klärung und Lösung von Problemen verwiesen.
Das hänge aber offenkundig auch damit zusammen, dass diese nicht in der Lage seien, sachkundig zu reagieren und die Bürger bei der Lösung ihrer Probleme im erwarteten Maße zu unterstützen.
5. Die Informations- und Medienpolitik
Grundsätzlich wird die Erwartung geäußert, dass sich die Probleme, mit denen sich die Werktätigen täglich auseinandersetzen müssen und die sie bewegen, in den Medien wesentlich konkreter widerspiegeln und die Wege zu deren Lösung bzw. Überwindung öffentlich diskutiert werden.
Unter breiten Teilen der Bevölkerung besteht ausgehend von der Lage auf diesem Gebiet immer noch ein anhaltend großes Informationsbedürfnis zu den Problemen der ständigen Ausreise und des ungesetzlichen Verlassens sowie den Ursachen und begünstigenden Umständen dafür und den damit verbundenen vielfältigen Fragen nach der weiteren Entwicklung unter diesen Bedingungen, vor allem auch angesichts der damit verbundenen gegnerischen Angriffe und ihrer ideologischen Auswirkungen.
In den Medien wird insgesamt eine offensivere Auseinandersetzung erwartet.
Die Notwendigkeit wird damit begründet, dass ein großer Teil der Bevölkerung regelmäßig und mit großer Aufmerksamkeit die aktuellen Beiträge dazu in den westlichen Medien verfolge. Dort gegebene Informationen, Kommentare und Argumentationen haben wesentlichen Einfluss auf die Meinungs- und Standpunktbildung zu dieser Thematik. Häufig sind sie Anlass und Gegenstand einer Vielzahl von Meinungsäußerungen der Werktätigen im Wohn- und Freizeitbereich; sie bestimmen in beachtlichem Maße aber auch den Inhalt der Gespräche in den Arbeitskollektiven.
Progressive Kräfte verurteilen zwar den Entschluss von DDR-Bürgern, in die BRD ausreisen zu wollen, treten aber in ihren Arbeitskollektiven häufig nur zurückhaltend dagegen auf. Ihre Argumente – so wird häufig zum Ausdruck gebracht – würden immer weniger Wirkung erzielen und die Stimmungslage zu dieser Problematik in ihren Kollektiven kaum nachhaltig beeinflussen.
In den gesellschaftlichen Prozess der Zurückdrängung von Antragstellungen auf ständige Ausreise einbezogene Kader, vor allem in Betrieben und Einrichtungen, sehen immer weniger Nutzen in dieser Tätigkeit und lassen Anzeichen von Resignation und des Zurückweichens vor Auseinandersetzungen mit Antragstellern erkennen. Sie argumentieren, es wäre sowieso nicht sinnvoll, sich mit diesen Leuten auseinanderzusetzen. Außerdem seien die Positionen der Antragsteller so verhärtet, dass diese keine Gesprächsbereitschaft zeigen bzw. derartigen Gesprächen ausweichen.