Reaktionen der Bevölkerung auf Medienpolitik der UdSSR
10. Mai 1989
Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung auf die Informations- und Medienpolitik in der UdSSR und damit im Zusammenhang stehende Probleme [Bericht O/219]
Anmerkung: Auf die Gesamtheit der Reaktionen der Bevölkerung der DDR zur Informations- und Medienpolitik in der UdSSR1 bezogen können Ausgangspunkte nicht exakt abgegrenzt werden, da sowohl Veröffentlichungen in Medien der UdSSR und der DDR als auch Meldungen, Interpretationen und Kommentierungen gegnerischer, insbesondere elektronischer Medien der BRD und Westberlins Auswirkungen auf das Stimmungsbild haben.
Generell werden alle Veröffentlichungen in den Medien von breiten Bevölkerungskreisen mit Aufmerksamkeit verfolgt und sind Anlass für vielfältige, sehr differenzierte Meinungsäußerungen. Die Auffassungen reichen dabei von Zustimmung zum Umgestaltungsprozess in der UdSSR (Umgestaltung wird als einzig gangbarer Weg zur Überwindung der Stagnation der gesellschaftlichen Entwicklung in der UdSSR bewertet) bis hin zu Zweifeln und Skepsis hinsichtlich der erfolgreichen Umsetzung der Politik der Umgestaltung.
Seit geraumer Zeit wächst im Zusammenhang mit entsprechenden Veröffentlichungen in Medien der UdSSR und der DDR über offen zum Ausbruch kommende Konflikte und Widersprüche insbesondere unter progressiven Kräften Besorgnis darüber, ob die sowjetische Gesellschaft in der Lage ist, die komplizierte Situation voll zu beherrschen.
In besonderem Maße treten Angehörige der Intelligenz, darunter Journalisten, Pädagogen, Wissenschaftler in Lehre und Forschung sowie Kader aus dem Bereich Wissenschaft und Technik, aus der Volkswirtschaft und Künstler – ein großer Teil von ihnen ist Mitglied der SED bzw. gesellschaftlich engagiert – mit diesbezüglichen Meinungsäußerungen in Erscheinung.
Vorgetragene Auffassungen werden überwiegend geprägt von Eindrücken aus in der DDR vertriebenen sowjetischen Presseerzeugnissen bzw. aus in der DDR-Presse abgedruckten Veröffentlichungen von TASS und sowjetischen Zeitungen/Zeitschriften. Sie werden ergänzt durch Meinungen von DDR-Bürgern, die sich aus touristischen oder beruflichen Gründen in der UdSSR aufhielten.
Von einer großen Anzahl sich dazu äußernder Bürger, insbesondere von Mitgliedern und Funktionären der SED u. a. progressiven Personen, wird Betroffenheit über die von der KPdSU aufgezeigte Fülle der anstehenden Probleme und politischen Fehler in der Vergangenheit zum Ausdruck gebracht. Häufig betonen sie, dass ihnen mit der offenen Darlegung der vielfältigsten Probleme in nahezu allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens in der Sowjetunion die ganze Kompliziertheit der Situation in der UdSSR erst richtig bewusst geworden sei.
In Kenntnis entsprechender Veröffentlichungen wird mit wachsender Besorgnis festgestellt, dass in der Sowjetunion bisher nicht die erwartete Stabilisierung der Lage im Ergebnis der Umgestaltungsprozesse eingetreten sei. Zunehmend werden dabei Fragen aufgeworfen, ob alle eingeleiteten Prozesse der sozialistischen Entwicklung dienlich seien. Häufig wird argumentiert, es entstehe der Eindruck, die Partei- und Staatsführung der UdSSR beherrsche nicht mehr alle im Zusammenhang mit dem praktizierten sozialistischen Meinungspluralismus auftretenden Probleme.
Während in zurückliegender Zeit die Auffassung dominierte, das offene und kritische Aufzeigen von Fehlern und Schwächen in der bisherigen gesellschaftlichen Entwicklung der UdSSR und die in breiter Form dazu geführte öffentliche Auseinandersetzung damit seien Ausdruck der Stärke der KPdSU, nehmen jetzt Auffassungen an Umfang und Intensität zu, dass die Entfaltung der sozialistischen Demokratie und Entwicklung einer Atmosphäre der Offenheit nicht dazu führen dürfen, in der Öffentlichkeit hemmungslos subjektivistische Meinungen und Beurteilungen von Menschen und Prozessen kundtun, Halbwahrheiten, Spekulationen und bürgerliche Auffassungen verbreiten zu können.
Insbesondere Mitglieder der SED äußern sich immer wieder bestürzt über die Schärfe der geführten Auseinandersetzung mit politischen Fehlern führender Persönlichkeiten in der Geschichte der Sowjetunion. Die offene Fehlerdiskussion vor allem in den sowjetischen Medien habe ihrer Meinung nach ein unvertretbares Ausmaß angenommen und beinhalte Züge des Anarchismus.
Die praktisch ausschließlich negative Geschichtsbetrachtung der Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft nach dem Tode Lenins sei eine Ungerechtigkeit gegenüber den vielen ehrlichen Kommunisten in der Sowjetunion, die sich in den vielen Jahrzehnten für die Entwicklung ihres Landes eingesetzt und aufgeopfert haben.
Es sei bedauerlich, so äußert sich der genannte Personenkreis, dass in den Medien der UdSSR insbesondere die Auseinandersetzung mit der von Stalin betriebenen Politik breiten Raum einnimmt und Orientierungen und Wege zur Lösung der anstehenden aktuellen Aufgaben in allen gesellschaftlichen Bereichen immer mehr in den Hintergrund gedrängt werden.
Vielfach wird darüber hinaus auch die Frage nach dem Nutzen und der Zweckmäßigkeit solcher Veröffentlichungen wie beispielsweise über den Umfang der Bevölkerungskreise, die in der UdSSR unterhalb der Armutsgrenze leben, gestellt.2
Diese Informations- und Medienpolitik sei, so schätzen u. a. Arbeiter und Ingenieure aus Großbetrieben und Pädagogen ein, für die Menschen mehr verwirrend als nützlich.
Es sei ihrer Meinung nach offenkundig, dass sich diese negative Betrachtungsweise der bisherigen gesellschaftlichen Entwicklung auch deprimierend auf das Sowjetvolk auswirke und Vertrauensverluste zur Politik der KPdSU nach sich ziehe. Davon würden auch politisch und ideologisch destabilisierende Wirkungen in anderen sozialistischen Ländern ausgehen.