Reaktionen der Bevölkerung auf Pfingsttreffen der Jugend
8. Mai 1989
Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung auf das bevorstehende Pfingsttreffen der Jugend vom 12. bis 15. Mai 1989 in Berlin [Bericht O/218]
Vorliegenden Hinweisen aus den Bezirken und der Hauptstadt der DDR, Berlin, zufolge gibt es in der Bevölkerung ein sehr differenziertes Meinungsspektrum zum Pfingsttreffen der FDJ.1
Politisch progressive Personen, darunter zahlreiche Jugendliche und Jungerwachsene, bewerten dieses Treffen als einen Höhepunkt im Verbandsleben der FDJ in Vorbereitung des 40. Jahrestages der DDR.
Sie sehen darin eine an Traditionen der Arbeiterklasse anknüpfende Form der Demonstration der politischen Haltung der Jugend der DDR zu ihrem Staat und zur gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR. Viele Mandatsträger zum Pfingsttreffen bringen mit Stolz zum Ausdruck, dass sie die ihnen gebotene Teilnahme als Auszeichnung und Anerkennung für ihre gezeigten Leistungen in der Ausbildung und im Beruf ansehen.
Dennoch werden in beachtlichem Umfang insbesondere von Einwohnern der Hauptstadt, darunter auch von Mitgliedern der SED u. a. progressiven Kräften, sowie von jugendlichen und jungerwachsenen Personen eine Reihe von Vorbehalten bis hin zu Desinteresse und Ablehnung zu diesem gesellschaftlichen Höhepunkt zum Ausdruck gebracht.
Grundtenor derartiger Gespräche und Meinungsäußerungen ist die Auffassung, der Umfang der für die Organisation und Durchführung des Treffens aufgewandten Mittel sei angesichts der angespannten volkswirtschaftlichen Situation zu groß. Es wird darin ein Widerspruch gesehen zu zentralen Orientierungen und Forderungen nach sparsamem Umgang mit Fonds und Mitteln in allen Bereichen. Vielfach wird in diesem Zusammenhang auch von einer Verschwendung von Mitteln gesprochen, die zur Lösung volkswirtschaftlicher oder kommunaler bzw. anderer sozialer Probleme, wie z. B. vorzeitige Rentenerhöhung, hätten nutzbringender eingesetzt werden können. Typisch für solche Auffassungen ist das Argument, wieder einmal wurden Millionen Mark für politische Repräsentationszwecke zweckentfremdet verwendet.
Vor allem von älteren Bürgern wird häufig die Auffassung vertreten, dass der Umfang des Treffens im Widerspruch stünde zu der vielerorts zu geringen Ausstrahlungskraft der FDJ unter Jugendlichen. Die geplanten politischen Großveranstaltungen widerspiegelten nicht richtig die tatsächliche Grundhaltung zahlreicher Jugendlicher zum sozialistischen Staat und zur SED. Es sei zu bezweifeln, so wird weiter geäußert, dass ein solches Treffen die Verbundenheit der Jugend mit Staat und Partei festige und sie zu höheren Leistungen ansporne. Ihrer Meinung nach könnten territoriale Treffen von Jugendlichen mit Vertretern von Partei- und Staatsorganen wesentlich effektiver für die ideologische Arbeit mit Jugendlichen genutzt werden.
Sie verweisen dabei auch auf eigene Feststellungen in ihren Arbeitskollektiven, denen zufolge Jugendliche in vielen Betrieben und Einrichtungen selbst nur geringes Interesse, sogar auch wenig Bereitschaft zur Teilnahme an diesem Treffen zeigten. Während bei vorangegangenen Treffen eine Delegierung als Auszeichnung angesehen wurde, müssten jetzt viele Jugendliche von staatlichen Leitern und Parteiorganisationen überredet und überzeugt werden, am Pfingsttreffen teilzunehmen.
Vorliegenden Hinweisen zufolge begründen FDJ-Mitglieder vielfach ihr mangelndes Interesse an einer Delegierung zum Pfingsttreffen neben dem Wunsch nach individueller bzw. familiärer Freizeitgestaltung während der Feiertage vor allem auch mit dem inaktiven und uninteressanten Verbandsleben in ihrer eigenen FDJ-Grundorganisation.
Vorbehalte anderer jugendlicher und jungerwachsener Personenkreise, insbesondere von EOS-Schülern und Studenten an Hoch- und Fachschulen, richteten sich hauptsächlich gegen die Durchführung der geplanten politischen Großveranstaltungen. Solche Veranstaltungen seien nicht mehr zeitgemäß. Sie hätten für die Jugendlichen, so äußern sie sich, nicht mehr die gleiche Bedeutung wie für die ältere Generation. Als echte Höhepunkte für die Jugend würden sie vielmehr das Festival des politischen Liedes2 oder große Rockkonzerte ansehen.
Beachtenswert ist, dass sehr häufig solche Personenkreise ihre distanzierte bis ablehnende Haltung zum Pfingsttreffen auch damit begründen, keinen Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung des Treffens nehmen zu können. Sie seien nicht nach ihren Vorstellungen befragt worden. Verschiedentlich äußerten auch Mandatsträger aus verschiedenen Bereichen nach Einweisungen über den Verlauf des Treffens durch Funktionäre der FDJ, dass das Programm nicht ihren Vorstellungen und Wünschen entspreche. Sie hätten den Eindruck, dass das Treffen losgelöst von den Interessen der Jugendlichen organisiert worden sei.
In besonders massiver Form und zum Teil auch politisch motiviert bekundeten Studenten an einigen Hochschulen und Universitäten in individuellen Gesprächen, aber auch auf Versammlungen und Foren ihre ablehnende Haltung.
Schwerpunkte bildeten dabei die Humboldt-Universität Berlin, insbesondere die Sektionen Geschichte, Philosophie und Soziologie, sowie die Wilhelm-Pieck-Universität Rostock, Sektion Lateinamerikawissenschaften.
Ein beachtlicher Teil der Studenten brachte zum Teil offen seine Ablehnung gegen die politischen Inhalte des Treffens zum Ausdruck. Im Vordergrund stand dabei das Argument, politische Großveranstaltungen brächten nicht die wahre Haltung der Mehrheit der Jugendlichen zur Partei- und Staatsführung zum Ausdruck. Dem Zentralrat der FDJ wurde unterstellt, er habe sich mit dem zwischenzeitlich bekannt gewordenen Programm des Pfingsttreffens über die Interessen der Jugendlichen hinweggesetzt und damit Grundsätze der sozialistischen Demokratie verletzt.
In Einzelfällen wurde daraus die Behauptung abgeleitet, der Zentralrat der FDJ sei überhaupt nicht mehr kompetent für die Arbeit des Jugendverbandes.
Wiederholt wurde auch die Auffassung vertreten, solche wie zum Pfingsttreffen vorgesehenen Massenaufmärsche seien zu unterlassen, da dies in anderen sozialistischen Ländern auch nicht mehr üblich sei.
Nach vorliegenden Hinweisen wurden Diskussionen mit derartigen Inhalten von Studenten massiv, teilweise sehr aggressiv und unsachlich geführt, sodass trotz des engagierten Auftretens von Funktionären der Partei und der FDJ sowie anderer progressiver Kräfte aus den Reihen der Studenten und des Lehrkörpers kaum Veränderungen in den Haltungen der betreffenden Studenten sichtbar wurden. Die Argumentationen der progressiven Kräfte wurden wiederholt als Phrasen abgetan.
Einzelne Studenten kündigten an, »Beobachter« zum Pfingsttreffen zu entsenden, um durch die Kenntnisnahme vor Ort ihre ablehnenden Positionen begründen zu können.
Als ein zentrales Problem in Vorbereitung des Pfingsttreffens erwies sich die Gewinnung von Einwohnern der Hauptstadt für die Bereitstellung von Privatquartieren. Mit der Quartierwerbung beauftragt gewesene gesellschaftliche Kräfte schätzten wiederholt ein, dass sie in den Gesprächen mit Bürgern, darunter auch mit Mitgliedern der SED und anderen progressiven Kräften, auf eine außergewöhnlich geringe Resonanz und Bereitschaft gestoßen seien. Diese Haltungen habe man häufig im Gesprächsverlauf nicht positiv beeinflussen können. Fortgesetzt seien sie mit solchen Argumenten konfrontiert worden, dass man
- –
an den Pfingstfeiertagen persönlichen Interessen nachgehen wolle (Wochenendgrundstück, Beginn der Schulferien),
- –
in Berlin von derartigen Großveranstaltungen übersättigt sei (vielfach wurde in diesem Zusammenhang auf die Konzentration gesellschaftlicher Höhepunkte im Monat Mai 1989 hingewiesen),
- –
bei zurückliegenden Anlässen Enttäuschungen erlebt habe wegen der Nichtinanspruchnahme bereitgestellter Quartiere oder unangemessenen Auftretens und störenden Verhaltens von Jugendlichen in den Wohnungen,
- –
in Anbetracht seit Jahren ungelöster kommunaler Probleme nicht mehr bereit sei, Unterkunft zur Verfügung zu stellen.
Verbreitet sei auch die Auffassung, der FDJ werde vieles zu leicht gemacht. Wenn schon ein derartiges Jugendtreffen in solch großen Dimensionen durchgeführt wird, wäre es durchaus zumutbar, die Übernachtung in Massenquartieren vorzunehmen. Dies wäre jugendgemäßer, fördere den kollektiven Zusammenhalt und stünde keinesfalls im Widerspruch zu den allgemein gewachsenen Lebensansprüchen.
Beispiele von in diesem Zusammenhang an Mitglieder der SED gestellten Forderungen nach einem schriftlichen Nachweis ihres Aufenthaltes während der Pfingstfeiertage bzw. über die Größe ihrer Wohnung und die Anzahl der in dieser Wohnung lebenden Familienangehörigen wurden mit großem Befremden aufgenommen und stießen auf Ablehnung.
Die angeblich listenmäßig erfolgte Erfassung von Parteimitgliedern in einigen Partei- und Grundorganisationen, die keine Quartiergäste aufnehmen, wurde als indiskutabel und vereinzelt auch als »Schwarze-Listen-Praxis« der 1950er Jahre bezeichnet.