Reaktionen der Bevölkerung auf Plenum der KPdSU am 25.4.
5. Mai 1989
Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung auf das Plenum des ZK der KPdSU am 25. April 1989 [Bericht O/217]
Vorliegenden Hinweisen aus Bezirken und der Hauptstadt der DDR, Berlin, zufolge fand das Plenum des ZK der KPdSU insbesondere unter progressiven und anderen politisch interessierten Personen, vor allem Angehörigen der Intelligenz, Mitarbeitern staatlicher Organe sowie Leitungs- und mittleren leitenden Kadern in Großbetrieben, Resonanz.1
Veröffentlichungen in den Medien der DDR dazu wurden mit Interesse verfolgt.2 Vielfach hatten auch in Sendebeiträgen westlicher Funkmedien gegebene Informationen und Wertungen Einfluss auf die Meinungsbildung.
Im Mittelpunkt der bekannt gewordenen Meinungsäußerungen und Gespräche stehen Auffassungen zu den getroffenen Kaderentscheidungen im ZK der KPdSU. Vorherrschende Meinung ist, dass die getroffenen Entscheidungen zur zahlenmäßigen Reduzierung der Gesamtstärke des Zentralkomitees und zur »Verjüngung« seiner Mitglieder im Zusammenhang mit der konsequenten Weiterführung der Politik der Umgestaltung zu sehen sind. Sie finden darum mehrheitlich Zustimmung und Unterstützung.
Eng damit verbunden wird aber auch mit Besorgnis festgestellt, dass die Umgestaltung in der Sowjetunion3 für die Bevölkerung noch nicht die erwarteten sichtbaren Erfolge gebracht habe. In Bereichen der Wirtschaft, so wird argumentiert, stagniere die Entwicklung. Es sei zu erheblichen Zuspitzungen im Verhältnis zwischen den verschiedenen Nationen und zu nationalistischen Erscheinungen und Ausschreitungen gekommen, die die innenpolitische Stabilität und das außenpolitische Ansehen der Sowjetunion beeinträchtigen.
Im Zusammenhang damit sei der Eindruck entstanden, dass auch im hauptamtlichen Parteiapparat nicht von allen Funktionären die Politik der Umgestaltung unterstützt und durchgesetzt wird. Aus diesen Gründen sei es nach Meinung genannter Personenkreise erforderlich, neue Kräfte und Potenzen für die Umgestaltung zu mobilisieren, wozu Kader mit Ideen, Initiative und Risikobereitschaft gebraucht würden.
Von den genannten Personenkreisen werden dabei solche Fragen aufgeworfen wie:
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Welchen Effekt will Genosse Gorbatschow4 mit den Kaderveränderungen erzielen; wird er sein Konzept weiter durchsetzen können?
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Will man in der Sowjetunion auf diese Weise innere Probleme lösen?
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Warum wurden die genannten Funktionäre auf dem Parteitag der KPdSU überhaupt noch gewählt? Haben sie ihre Entscheidung freiwillig getroffen?
Wenn auch zum Teil mit Verwunderung zur Kenntnis genommen wurde, dass eine solch große Anzahl von ZK-Mitgliedern aus ihren Funktionen ausgeschieden ist, überwiegt insbesondere in Meinungsäußerungen von Wissenschaftlern in Lehre und Forschung, Angehörigen der wissenschaftlich-technischen, künstlerischen und medizinischen Intelligenz sowie von Leitungs- und mittleren leitenden Kadern der Volkswirtschaft die Auffassung, dass es sich dabei um einen »natürlichen und normalen Prozess« handele.
Gestiegenen Anforderungen an die Leistungsfähigkeit, Flexibilität und Dynamik von Leitungskadern und Funktionären im komplizierten Prozess der Umgestaltung in der Sowjetunion könne man nicht allein mit Überzeugung, hoher Kampf- und Lebenserfahrung gerecht werden.
Es sei anerkennenswert, so äußerten sich genannte Personenkreise weiter, wenn leitende Funktionäre ihr Leistungsvermögen real einschätzen und mit ihrer konsequenten Entscheidung jüngeren Kadern Möglichkeiten der Bewährung und Übernahme von Verantwortung einräumten.
Vereinzelt werden aber auch von Personen aus verschiedenen Bereichen Spekulationen über die »eigentlichen« Hintergründe der getroffenen Entscheidungen angestellt, in denen sich zum Teil Argumentationsrichtungen westlicher Funkmedien widerspiegeln. In diesem Zusammenhang wird geäußert, dass
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die ausgeschiedenen ZK-Mitglieder Reformgegner seien, die die weitere Übernahme von Verantwortung abgelehnt bzw. kapituliert hätten,
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bestehende Differenzen im ZK zur Weiterführung der Politik der Umgestaltung zugunsten der Positionen des Genossen Gorbatschow entschieden worden seien.
Vorliegenden Hinweisen zufolge werden in Meinungsäußerungen zum Plenum des ZK der KPdSU auch immer wieder Bezüge zur Politik der SED und der Entwicklung in der DDR hergestellt.
Grundtenor dabei ist die Zustimmung und Unterstützung des kritischen und konsequenten Herangehens des ZK der KPdSU an die Lösung anstehender Kaderprobleme. Eng verbunden damit wird die Erwartung eines analogen Vorgehens der SED zum Ausdruck gebracht.
Es wäre bei voller Anerkennung der von der Partei- und Staatsführung geleisteten Arbeit doch zweckmäßig, so wird argumentiert, zentrale Leitungsfunktionen mit jüngeren Kadern zu besetzen. Wiederholt wurden mit Bezugnahme auf den XII. Parteitag der SED5 Erwartungen hinsichtlich umfangreicher Kaderveränderungen im ZK der SED, besonders hinsichtlich der Wahl jüngerer Kader, geäußert.