Reaktionen der Bevölkerung auf Vorbereitung der Kommunalwahl
26. April 1989
Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung im Zusammenhang mit der Vorbereitung und Durchführung der Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 [Bericht O/216]
Vorliegenden Hinweisen aus den Bezirken und der Hauptstadt der DDR, Berlin, zufolge nehmen Gespräche und Meinungsäußerungen aus allen Teilen der Bevölkerung im Zusammenhang mit der Vorbereitung und Durchführung der Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 breiten Raum im Stimmungsbild ein.1 Sie belegen ein gewachsenes Interesse und eine zunehmend kritische Aufmerksamkeit an einer bürgernahen Um- und Durchsetzung zentraler Orientierungen in der Tätigkeit territorialer staatlicher Organe und Volksvertretungen.
Grundtenor der individuellen Gespräche mit den Bürgern und der Diskussionen und Meinungsäußerungen auf den Wählerforen ist die Einordnung und Bewertung der bevorstehenden Kommunalwahlen als einen bedeutenden politischen Höhepunkt im gesellschaftlichen Leben in der DDR, mit dem das Vertrauen der Bürger in die Politik von Partei und Regierung erneut bekräftigt werde. Darin eingeschlossen ist die bekundete Bereitschaft von vielen Bürgern und Kollektiven, die innen- und außenpolitischen Ziele der Partei durch eigene Taten aktiv zu unterstützen sowie schöpferisch und initiativreich an der weiteren Verwirklichung der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik mitzuwirken.
In breitem Umfang wurde und wird die Volksaussprache in Vorbereitung der Kommunalwahlen genutzt, um ungelöste kommunale Probleme und Aufgabenstellungen der vergangenen Legislaturperiode anzusprechen und auf eine Lösung zu dringen. Dabei treten viele Bürger, so schätzen insbesondere in die Wahlvorbereitungen einbezogene Personen ein, sehr kritisch, zum Teil auch fordernd in Erscheinung. Mit Nachdruck werden von den Abgeordneten bzw. Kandidaten überzeugende Antworten und konstruktive Lösungswege zu den aufgeworfenen Fragen verlangt.
Den Schwerpunkt der angesprochenen Probleme – und das widerspiegelt sich auch in der Eingabentätigkeit der Bürger – bilden die Vergabe bzw. Maßnahmen der Werterhaltung/Rekonstruktion von Wohnraum.
Darüber hinaus stehen u. a. im Mittelpunkt von kritischen Meinungsäußerungen
- –
kommunale handelspolitische Probleme wie Öffnungs- bzw. Schließzeiten von Verkaufs- und Dienstleistungseinrichtungen, Qualität und Wartezeiten bei Dienstleistungen sowie das Verkaufsniveau in den Verkaufsstellen,
- –
Probleme der Trinkwasserversorgung, der Fäkalienentsorgung, des Zustandes von Straßen und Wegen sowie Beleuchtungsanlagen (vor allem in Kleinstädten und Landgemeinden),
- –
im Territorium auftretende Umweltbelastungen,
- –
Fragen der sozialen Betreuung von Bürgern,
- –
territorial differenziert auftretende Probleme der medizinischen Versorgung der Bevölkerung.
Zu den angesprochenen kommunalen Problemen werden von den Bürgern auch direkte Bezüge hergestellt zu Fragen der Wirtschaftspolitik insgesamt, zu Mängeln und Lücken in der Versorgung der Bevölkerung mit Waren und Dienstleistungen, der Preisentwicklung, vor allem bei Konsumgütern, sowie zu gravierenden Unzulänglichkeiten in der Bereitstellung von Ersatzteilen für den Bevölkerungsbedarf, in Industrie und Landwirtschaft.
Vielfach werden Unzulänglichkeiten im Territorium der Arbeitsweise von Abgeordneten bzw. den örtlichen Staatsorganen angelastet. Auch unter Hinweis auf die Nichtrealisierung in zurückliegenden Jahren gegebener »Wahlversprechen« sowie auf die unbefriedigende Auskunftsfähigkeit und ein eng damit im Zusammenhang stehendes unsicheres Auftreten verantwortlicher Funktionäre und Abgeordneter wird wiederholt die Meinung vertreten, man habe offensichtlich nicht immer die richtigen Kandidaten gewählt. Es seien gravierende Versäumnisse zugelassen worden. Mit einer kritischeren Prüfung der Kandidaten zur bevorstehenden Wahl habe man bessere Voraussetzungen für eine bürgernahe Kommunalpolitik schaffen wollen.
Zu beachten sind in diesem Zusammenhang auch solche Meinungsäußerungen, man habe den Eindruck, Vertreter staatlicher Organe sowie Funktionäre von Parteien und gesellschaftlichen Organisationen suchten immer seltener, häufig nur im Vorfeld gesellschaftlicher Höhepunkte das Gespräch mit den Bürgern. Es sei dringend erforderlich, diese Kontakte wieder kontinuierlicher zu gestalten.
Wiederholt wird von progressiven und gesellschaftlich engagierten Kräften – auch unter Bezugnahme auf Probleme im Zusammenhang mit der Vorbereitung der Kommunalwahl – mit einer gewissen Besorgnis die Auffassung vertreten, die allgemeine Stimmung unter breiten Teilen der Bevölkerung habe sich unter dem Einfluss der o. g. Probleme in den letzten Jahren spürbar verschlechtert. Das fände seinen Niederschlag u. a. in
- –
Ablehnungen von zum Teil langjährigen Abgeordneten, erneut als Volksvertreter zu kandidieren. Begründet werden derartige Auffassungen mit dem Argument, sie als Abgeordnete hätten trotz großem persönlichen Engagement zu geringen Einfluss auf die Lösung kommunalpolitischer Aufgaben. Den berechtigten Anliegen der Bürger werde seitens zuständiger staatlicher Organe häufig zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Zu viel Bürokratismus behindere die Lösung ihrer Probleme erheblich. Darüber hinaus seien die im kommunalen Bereich vorhandenen materiellen und finanziellen Mittel nicht ausreichend, um die dringlichsten Aufgaben lösen zu können.
- –
beachtlichem Umfang geäußerten Wahlvorbehalten bis hin zur Ankündigung der Nichtteilnahme an der Wahl mit dem Ziel, Druck auf staatliche Organe auszuüben und ihre Entscheidungsfindung zu persönlichen Anliegen, vor allem zu Wohnungsproblemen und Reiseanträgen, zu beeinflussen. Von diesem Personenkreis wird auch unterstellt, der Erlass der 1. Durchführungsbestimmung zur Reiseverordnung der DDR vom 30. November 1988 erfolgte mit der Zielstellung, die Bevölkerung zu beruhigen und das Wahlergebnis positiv zu beeinflussen.2
Vorliegenden Hinweisen zufolge werden im Zusammenhang mit den Wahlvorbereitungen auch immer wieder grundsätzliche Fragen der Entwicklung der sozialistischen Demokratie – gemessen an den Kommunalwahlen 1989 – diskutiert. In besonderem Maße treten Angehörige der Intelligenz sowie studentische Personenkreise damit in Erscheinung.
Häufig werden dabei Vergleiche zu den durchgeführten Wahlen zum Kongress der Volksdeputierten in der UdSSR gezogen.3 Einzelne in der UdSSR praktizierte Methoden sollten nach Meinung der sich dazu äußernden Personen auch in der DDR angewandt werden. Damit könne der demokratische Charakter der Wahlen erhöht werden.
Beispielhaft verweisen sie dabei auf folgende Probleme:
- –
Zur Vermeidung von »ungerechtfertigten Verdächtigungen« sollte das Aufsuchen von Wahlkabinen zur Pflicht gemacht werden.
- –
Für ein Mandat müssten auch in der DDR mehrere Kandidaten aufgestellt werden.
- –
Das Anstreben einer hohen Beteiligung an den Wahlen wäre wenig sinnvoll und überzeugend. (In der UdSSR sei eine Wahlbeteiligung von ca. 80 % erreicht worden, ohne dass darin eine Schwächung der Position der KPdSU und ihrer Politik der Umgestaltung gesehen werde.)
In einzelnen Meinungsäußerungen widerspiegeln sich auch relativ unkritisch übernommene, gegen den demokratischen Charakter der Kommunalwahlen gerichtete Argumente westlicher Massenmedien.
Das zeigt sich insbesondere in solchen Auffassungen wie
- –
die Wahlen in der DDR wären undemokratisch, es gehe der Partei lediglich um eine Stärkung ihrer Machtposition,
- –
die aufgestellten Kandidaten seien bereits vorausgewählt worden, alternative Wahlmöglichkeiten bestünden nicht.
Bestandteil einer Vielzahl von Meinungsäußerungen im Rahmen der Wahlvorbereitungen sind Auffassungen zu der von der Volkskammer auf ihrer 8. Tagung4 beschlossenen Ergänzung des Wahlgesetzes der DDR hinsichtlich der Einräumung des aktiven und passiven Wahlrechts für in der DDR lebende ausländische Staatsbürger.5
Vor allem progressive Kräfte bekunden Zustimmung zu dieser Regelung. Sie argumentieren, dass
- –
dieser Beschluss Ausdruck der Vertiefung und Weiterentwicklung der sozialistischen Demokratie sei,
- –
damit auch vor der Weltöffentlichkeit die Wahrung der Menschenrechte in der DDR überzeugend dokumentiert werde,
- –
die DDR ein klares politisches Bekenntnis gegen jede Form von Rassendiskriminierung und Ausländerfeindlichkeit abgelegt hätte.
Dennoch äußern sich Bürger aus den verschiedensten Bevölkerungskreisen in beachtlichem Umfang auch kritisch bis ablehnend zu diesem Beschluss der Volkskammer der DDR. Des Öfteren wird dazu der Standpunkt vertreten, dass dieser Beschluss für viele Bürger, darunter auch in die Wahlvorbereitungen einbezogene progressive Kräfte, überraschend gekommen sei. Es sei unverständlich und fände keine Zustimmung, dass Entscheidungen zu derartig grundlegenden Fragen der Entwicklung der sozialistischen Demokratie ohne eine Volksaussprache getroffen wurden. In emotional geprägten Einzelmeinungen wird die Frage gestellt, ob die Meinung der Bürger nicht mehr gefragt sei. Eine solche Vorgehensweise stünde im Widerspruch zum propagierten Mitspracherecht der Bürger.
Darüber hinaus wird von den sich in diesem Sinne äußernden Bürgern angezweifelt, dass sich als Abgeordnete gewählte ausländische Bürger mit dem notwendigen Engagement für die Lösung kommunaler Fragen einsetzen werden bzw. dazu befähigt sind.
Sie wären teilweise unter anderen gesellschaftlichen Verhältnissen und spezifischen nationalen Gepflogenheiten aufgewachsen. Auch nach einem sechsmonatigen Aufenthalt in der DDR sei ihrer Meinung nach der Prozess der gesellschaftlichen Integration dieser Bürger nicht so weit vorangeschritten, dass ein Wirksamwerden als Abgeordneter möglich sei. Sprachbarrieren und Unkenntnis kommunaler Probleme würden sich dabei zusätzlich einschränkend auswirken.
Probleme und Auseinandersetzungen in Arbeitskollektiven zwischen ausländischen Arbeitskräften und DDR-Bürgern wurden wiederholt zum Anlass genommen, Zweifel an der Richtigkeit eines solchen Beschlusses zu äußern. In derartigen Meinungsäußerungen wird auch verwiesen auf kritikwürdige Erscheinungen im Verhalten ausländischer Arbeitskräfte mit denen die Werktätigen konfrontiert werden, wie spekulative Warenverkäufe, mangelnde Arbeitsdisziplin und Einsatzbereitschaft sowie ein anmaßendes und zum Teil provozierendes Auftreten.
Insbesondere unter Hinweis auf die jüngsten politischen Entscheidungen und Entwicklungsprozesse in der VR Polen werden vor allem von Werktätigen aus Betrieben, in denen polnische Staatsbürger beschäftigt sind, Vorbehalte und Bedenken geäußert. Es bestünde, so äußern sie sich, die Gefahr des politischen Missbrauchs der gesellschaftlichen Autorität und Stellung eines Abgeordneten durch polnische Staatsbürger, in dem sie versuchen könnten, die Ideen und Ziele der als konterrevolutionär charakterisierten Gewerkschaft »Solidarność« zu propagieren.
Immer wieder werden in diesen kritischen Meinungen auch Spekulationen über die »eigentlichen Hintergründe« des Volkskammerbeschlusses angestellt. Mit dem Hinweis auf sich in der BRD abzeichnende politische Spannungen im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Integration ausländischer Arbeitskräfte und deren Familien werde der DDR die Absicht unterstellt, in der Weltöffentlichkeit die in der DDR herrschenden demokratischen Verhältnisse, eingeschlossen die Gewährleistung der Menschenrechte, demonstrieren und den Vergleich mit der BRD herausfordern zu wollen. In Einzelmeinungen wird auch die Auffassung vertreten, man wolle mit den Wählerstimmen ausländischer Bürger das Ergebnis der Kommunalwahlen manipulieren, um über die erwartete geringere Wahlbeteiligung der DDR-Bürger hinwegzutäuschen.
Vorliegenden Hinweisen zufolge werden von in der DDR lebenden ausländischen Staatsbürgern sehr differenzierte Standpunkte zum Ausländerwahlrecht vertreten. Neben häufig geäußerter Zustimmung und Unterstützung werden zum Teil auch Unsicherheiten deutlich und Zurückhaltung geübt. In diesem Sinne argumentieren ausländische Bürger,
- –
keinen wirksamen Einfluss auf die Arbeit der Volksvertretungen nehmen zu können (Sprachschwierigkeiten, begrenzte Aufenthaltsdauer in der DDR, ungenügende Kenntnis des Wahlsystems der DDR),
- –
aus politischen oder religiösen Gründen nicht als Abgeordneter gewählt werden zu wollen,
- –
dass sie vor ihrer Entscheidungsfindung auf verbindliche Orientierungen ihrer Botschaften warten müssten.
Nach bisher vorliegenden internen Hinweisen beabsichtigen zahlreiche Personen mit Vorhaben zur ständigen Ausreise aus der DDR,6 an den Kommunalwahlen teilzunehmen, um mit ihrer ablehnenden Stimme zum Wahlvorschlag der Nationalen Front7 ihre Haltung zur DDR zu dokumentieren. Ein Teil der Antragsteller lehnt eine Wahlbeteiligung mit der Begründung, »sich mit diesem Staat nicht identifizieren zu wollen«, ab.
Hartnäckig hält sich unter diesem Personenkreis das Gerücht über eine »Ausreise-Welle« noch vor dem Wahltag. Das veranlasste bereits einige dieser Personen, sich durch das Veräußern ihres persönlichen Eigentums auf eine kurzfristige Entscheidung hinsichtlich ihrer Ausreise vorzubereiten. In diesem Zusammenhang wird vereinzelt auch die Auffassung vertreten, im Falle einer Nichtgenehmigung ihrer Ausreise wäre der Wahltag ein geeigneter Zeitpunkt, öffentlichkeitswirksam auf ihr Vorhaben aufmerksam zu machen und so Druck auf die zuständigen Staatsorgane auszuüben.