Reaktionen der Bevölkerung Beschlüsse Warschauer Pakt
6. Februar 1989
Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung auf die Beschlüsse von Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages zur einseitigen Reduzierung ihrer Streitkräfte und Verteidigungsausgaben [Bericht O/214]
Vorliegenden Hinweisen aus den Bezirken und der Hauptstadt der DDR, Berlin, zufolge stießen die Beschlüsse der Staaten des Warschauer Vertrages, insbesondere der UdSSR und der DDR, im Zusammenhang mit der einseitigen Reduzierung ihrer Streitkräfte und Verteidigungsausgaben bereits kurzzeitig nach ihrer Veröffentlichung in breiten Kreisen der Bevölkerung auf positive Resonanz, Zustimmung und Unterstützung.1
Von politisch progressiven und gesellschaftlich engagierten Bürgern, darunter Arbeiter und Angestellte aus Großbetrieben, Angehörige der wissenschaftlich-technischen und pädagogischen Intelligenz, Werktätige aus dem Bereich Landwirtschaft, Mitarbeiter staatlicher sowie Angehörige bewaffneter Organe, werden diese einseitigen Abrüstungsmaßnahmen eingeordnet in die konstruktive Friedens- und Dialogpolitik der sozialistischen Staaten.
Erneut wäre, so wird von diesem Personenkreis argumentiert, die Bereitschaft der sozialistischen Staaten zu konkreten Vereinbarungen und Maßnahmen zur Entspannung und militärischen Abrüstung unter Beweis gestellt worden.
Diese Initiativen der sozialistischen Staaten seien als vertrauensbildende Maßnahmen zu werten, die die Glaubwürdigkeit der Friedenspolitik der Staaten des Warschauer Vertrages in der Weltöffentlichkeit weiter festigen und nicht ohne Wirkung auf die internationale Friedensbewegung bleiben werden. Insbesondere im Hinblick auf die im März 1989 in Wien beginnenden Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa seien damit von den Staaten des Warschauer Vertrages bedeutsame Vorleistungen erbracht worden.2 Vielfach wird in diesem Zusammenhang auch die Auffassung vertreten, der »Westen sei damit in Zugzwang« geraten und müsse, um in der Öffentlichkeit das Gesicht zu wahren, adäquate Vorschläge unterbreiten.
Daraus abgeleitet werden zum Teil Erwartungen, die Verhandlungen in Wien könnten relativ kurzfristig und mit der Vereinbarung spürbar werdender Abrüstungsmaßnahmen im konventionellen Bereich abgeschlossen werden. Demgegenüber kommt in einer Reihe von Meinungsäußerungen unter Hinweis auf jüngste Äußerungen westlicher Politiker und Militärs aber auch eine gewisse Skepsis hinsichtlich zu erzielender Übereinkünfte auf dem Gebiet der konventionellen Rüstung zum Ausdruck.
In beachtlichem Umfang werden darüber hinaus in den Gesprächen und Meinungsäußerungen, vorrangig auch von dem genannten Personenkreis, Befürchtungen geäußert, dass die mehrfachen einseitigen Abrüstungsinitiativen der Warschauer Vertragsstaaten negative Auswirkungen auf das militärstrategische Gleichgewicht haben könnten, da der Umfang der angekündigten Reduzierungen zu einer Schwächung der militärischen Kampfkraft führen würde. Es müsse einkalkuliert werden, dass die NATO-Staaten ihre gegenwärtige Strategie der Abschreckung auch weiterhin beibehalten, sodass unsere einseitigen Abrüstungsmaßnahmen letztlich zulasten der eigenen Sicherheit gehen könnten. Häufig wird in diesem Zusammenhang auch die Frage gestellt, wo die Grenzen der Kompromissbereitschaft der sozialistischen Staaten lägen.
Angehörige der NVA und der Grenztruppen der DDR, insbesondere Berufskader, heben hervor, dass die Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages mit diesen einseitigen Abrüstungsschritten nachdrücklich den Defensivcharakter ihrer Militärdoktrin unter Beweis gestellt hätten. In besonderem Maße werden von ihnen in einem breiten Meinungsspektrum Vermutungen über mögliche Auswirkungen der beschlossenen Maßnahmen auf die NVA angestellt. Es wird davon ausgegangen, dass spürbar höhere Anforderungen an die Gefechtsbereitschaft der NVA gestellt werden, die sich auch in noch stärkeren dienstlichen Belastungen niederschlagen werden.
Mit großer Intensität werden von diesem Personenkreis, insbesondere von Berufskadern in Panzertruppenteilen und -einheiten, auch immer wieder Fragen diskutiert, welche Truppenteile und Einheiten in welchem Umfang reduziert bzw. umstrukturiert werden und welche persönlichen Konsequenzen sich daraus für sie ergeben, z. B. hinsichtlich Versetzungen, Umschulungen oder Entlassungen aus dem aktiven Dienst. Verbreitet wird von ihnen die Auffassung vertreten, dass jetzt bestehende Fehlstellen im Kaderbestand mit den freigesetzten Kadern aufgefüllt werden. Dagegen zeichnet sich unter dienstälteren Offizieren sowie Offiziers- und Fähnrichschülern insbesondere der Fachrichtungen Panzerkommandeur/Panzerdienst Unsicherheit hinsichtlich ihrer beruflichen Perspektive ab.
Das äußert sich u. a. in Diskussionen über die mögliche Auflösung von Einheiten, notwendige Umschulungen sowie die Zweckmäßigkeit einer weiteren fachspezifischen Qualifizierung.
In Meinungsäußerungen von Soldaten und Unteroffizieren auf Zeit überwiegen Auffassungen, dass sich aus den Abrüstungsmaßnahmen für sie keine wesentlichen Änderungen im Dienstverhältnis ergeben werden.
Spekuliert wird jedoch dahingehend, dass in der Perspektive eine Reduzierung der Einberufungen zum Reservistendienst sowie eine Verkürzung der Grundwehrdienstzeit möglich seien.
Soldaten in Baueinheiten äußern, dass die Abrüstungsmaßnahmen erst dann bedeutsam wären, wenn sie auch den Wehrdienst ohne Waffen erfassten.3 Die Einführung eines sogenannten sozialen Friedensdienstes wäre ihrer Auffassung nach eine wirkungsvolle Alternative zu den beschlossenen Maßnahmen gewesen.4
Insbesondere Angehörige der Wehrkommandos und auch Pädagogen äußern Besorgnis, dass sich die Maßnahmen negativ auf die Sicherung des Berufsnachwuchses im Bereich der Landesverteidigung auswirken könnten. Es gäbe bereits jetzt ernst zu nehmende Anzeichen dafür, dass Jugendliche für sich in einem militärischen Beruf keine Perspektive mehr sehen. Darüber hinaus sei mit negativen Auswirkungen auf die Wehrmotivation von Jugendlichen zu rechnen.
Vorliegenden Hinweisen zufolge gibt es spekulative Auffassungen unter Jugendlichen/Jungerwachsenen, dass bei Fortsetzung des Entspannungsprozesses und der Rüstungsreduzierung die Zeitdauer des Grundwehrdienstes gekürzt und Reservistendienste stark eingeschränkt werden. Vereinzelt wird von Jugendlichen, darunter auch von EOS-Schülern, die Frage gestellt, ob im Ergebnis der Abrüstungsmaßnahmen ihre Jahrgänge überhaupt noch einberufen werden.
In beachtlichem Umfang wird von Bürgern aus den verschiedensten Bevölkerungskreisen die Auffassung vertreten, im Ergebnis der Maßnahmen zur einseitigen Reduzierung der Streitkräfte und Ausgaben für den Verteidigungshaushalt werden umfangreiche Mittel und Arbeitskräfte freigesetzt, die planmäßig vor allem im produktiven Bereich der Volkswirtschaft zum Einsatz kommen und einen spürbaren Beitrag zur Erfüllung volkswirtschaftlicher Aufgaben erbringen werden.
In von der Grundtendenz abweichenden Meinungsäußerungen, u. a. von Angehörigen der Intelligenz, selbstständigen Gewerbetreibenden, Wissenschaftlern in Lehre und Forschung sowie in Einzelbeispielen auch von Angehörigen der NVA, werden in Übereinstimmung mit Argumentationsrichtungen westlicher Massenmedien solche Auffassungen vertreten, dass die von den sozialistischen Staaten angekündigten einseitigen Abrüstungsmaßnahmen
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aus ökonomischen Zwängen resultieren; (Es wird behauptet, dass ökonomische Probleme in der DDR u. a. sozialistischen Staaten Beleg dafür seien, dass die imperialistischen Staaten mit ihrem Konzept vom »Totrüsten des Sozialismus« Recht gehabt hätten.)
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auf die rückläufige demographische Entwicklung zurückzuführen seien;
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einem Eingeständnis ihrer militärischen Überlegenheit im Vergleich zur NATO im konventionellen Bereich gleichkomme;
lediglich die ohnehin in der Volkswirtschaft eingesetzten Angehörigen der NVA und die in den nächsten Jahren aufgrund fehlender Kader sowieso nicht zu besetzenden Planstellen getroffen seien; ausgesondert werde sicherlich nur veraltete Technik, sodass es für die Kampfkraft der NVA keine Einschränkungen gäbe.