Reaktionen der Bevölkerung zur Lage in Ungarn
17. Mai 1989
Hinweise auf Reaktionen der Bevölkerung zur Lageentwicklung in der Ungarischen Volksrepublik (UVR) [Bericht O/220]
Vorliegenden Hinweisen zufolge nehmen insbesondere unter dem Eindruck jüngster Veröffentlichungen in Medien der DDR Meinungsäußerungen aus den verschiedensten Bevölkerungskreisen zur Entwicklung der innenpolitischen Situation in der UVR an Umfang und Intensität zu.1
Einfluss auf die Meinungsbildung haben darüber hinaus auch in Sendebeiträgen westlicher Funkmedien dazu gegebene Informationen und Wertungen.
Im Mittelpunkt von Gesprächen und Meinungsäußerungen stehen Fragen nach der Existenz und dem Fortbestand der sozialistischen Gesellschaftsordnung in der UVR und nach möglichen negativen Auswirkungen auf die Gestaltung der Beziehungen UVR – DDR, besonders auf ökonomischem Gebiet und auf den Reise- und Touristenverkehr DDR – UVR.
Vor allem von progressiven Kräften, darunter vielen langjährigen Mitgliedern und Funktionären der SED, wird die Lageentwicklung in der UVR mit wachsendem Unverständnis und Sorge verfolgt.
Vielfach wird eingeschätzt, dass sich in der politischen und ökonomischen Entwicklung der UVR deutlich die Abkehr von allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten des sozialistischen Aufbaus abzeichnet.2
Sich in diesem Sinne äußernde Personen, u. a. Angehörige der Intelligenz, Arbeiter, Angestellte und Leitungskader in Großbetrieben, Jugendliche sowie Angehörige bewaffneter Organe, verweisen in diesem Zusammenhang besonders auf die erkennbare Preisgabe der führenden Rolle der USAP, auf die Einführung eines Mehrparteiensystems nach dem Muster eines Parteienpluralismus westlicher Prägung,3 die Auflösung des kommunistischen Jugendverbandes4 sowie die Einführung kapitalistischer Eigentumsformen an den Produktionsmitteln. Aktuelle Erscheinungen in der UVR wie Massenarbeitslosigkeit und rapide steigende Preise bei Lebens- und Nahrungsmitteln, Tarifen, Dienstleistungen, Mieten und Konsumgütern, die sich nachhaltig negativ auf das Lebensniveau der Werktätigen, vor allem der Arbeiter, auswirkten, werden als dem Sozialismus wesensfremd bezeichnet. Diese Entwicklung werde, so schätzen genannte Personenkreise ein, zu ernsthaften sozialen Konflikten und innenpolitischen Spannungen führen. Schon jetzt habe man den Eindruck, dass die ungarische Regierung die Lage im Land nicht mehr beherrscht. (In diesem Zusammenhang zu beachten ist das kursierende Gerücht über ein angebliches Ersuchen des ehemaligen Generalsekretärs des ZK der USAP, Janos Kadar,5 um politisches Asyl in der DDR.)
Insbesondere Parteimitglieder und progressive Kräfte älterer Jahrgänge vergleichen die heutige Situation in der UVR mit der Lage zurzeit der konterrevolutionären Ereignisse im Jahre 1956.6
Vielfach äußern sie ihr Unverständnis darüber, dass die USAP einer solchen Entwicklung tatenlos zugesehen hat und verbinden das mit der Frage nach den Ursachen des Geschehens. Wiederholt wurde die Auffassung vertreten, das Auftreten dieser Probleme in der UVR sei durch die Umgestaltungsprozesse in der UdSSR begünstigt worden.
Häufig wird die Entwicklung der innenpolitischen Lage in der UVR auch im Zusammenhang gesehen mit bestimmten Entwicklungstendenzen in einigen anderen sozialistischen Ländern, insbesondere der VR Polen. Daraus wird der Standpunkt abgeleitet, die sozialistischen Länder wären nicht mehr in der Lage, besonders ihre ökonomischen Probleme und Schwierigkeiten aus eigener Kraft zu lösen. Es erfolge darum eine immer stärkere Öffnung und Hinwendung zu führenden kapitalistischen Ländern. Die Frage nach der Perspektive der sozialistischen Staatengemeinschaft müsse aus dieser Sicht mit aller Ernsthaftigkeit gestellt werden. Es bestünde die reale Gefahr des Auseinanderfallens der sozialistischen Staatengemeinschaft und ihrer Bündnisse in Gestalt des Warschauer Vertrages7 und des RGW. Eine solche Entwicklung schade dem internationalen Ansehen der sozialistischen Länder und werde sich negativ auf die Ausstrahlungskraft der Friedensoffensive des Sozialismus auswirken.
Insbesondere seit der zielgerichteten Veröffentlichung von Informationen über den Abbau von Sicherungsanlagen an der Staatsgrenze zwischen der UVR und Österreich8 durch westliche Massenmedien verstärken sich unter allen Bevölkerungskreisen in erheblichem Maße Gerüchte und Spekulationen über zu erwartende drastische Einschränkungen im Reiseverkehr zwischen der DDR und der UVR.
Die DDR wolle – so wird argumentiert – mit derartigen Maßnahmen einen Missbrauch dieser Möglichkeiten für das ungesetzliche Verlassen der DDR durch ihre Bürger vorbeugend verhindern.
Damit im Zusammenhang stehende Gerüchte über angeblich von Mitarbeitern des VEB Reisebüro bzw. der DVP erteilte Auskünfte (u. a. keine Entgegennahme/Bearbeitung von Reiseanträgen in die UVR, keine Verlängerung bestehender Verträge zwischen Betrieben und Kombinaten beider Länder und die Bitte an Bürger, von einer geplanten Reise selbstständig Abstand zu nehmen) finden schnell Verbreitung und begünstigen eine gewisse Unsicherheit unter Personen, die eine Privatreise in die UVR planen. Das widerspiegelt sich u. a. in Nachfragen von Bürgern bei Filialen der Staatsbank der DDR, in Zweigstellen des Reisebüros sowie bei VPKA hinsichtlich bevorstehender Einschränkungen im Reiseverkehr sowie des vorzeitigen Beantragens der Erteilung von Visa für Reisen, die erst in einigen Monaten durchgeführt werden sollen.
In beachtlichem Umfang werden von den sich in diesem Sinne äußernden Personen, darunter auch progressive Kräfte, zum Teil spontan und emotional geprägt ablehnende Haltungen zu etwaigen diesbezüglichen staatlichen Maßnahmen zum Ausdruck gebracht. Das widerspiegelt sich u. a. in solchen Meinungsäußerungen
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Bürgern ohne persönliche Kontakte in das NSA werde damit eine attraktive Urlaubsmöglichkeit genommen. Dies käme einer drastischen Einschränkung im Reiseverkehr gleich, da der Urlaub in anderen sozialistischen Ländern auch immer unattraktiver werde und in der DDR kein ausreichendes Angebot an Urlaubsreisen/-plätzen vorhanden wäre;
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sich die DDR damit noch mehr »einmauere«, sodass Antragstellungen von Bürgern auf ständige Ausreise9 weiter anwachsen werden;
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man habe zum letzten Mal an einer Wahl teilgenommen, wenn solche Entscheidungen getroffen werden;
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die Partei- und Staatsführung der DDR untergrabe mit eventuellen derartigen Entscheidungen immer deutlicher das Vertrauensverhältnis Staat – Partei – Bürger.
Generell verweisen progressive Kräfte darauf, von Bürgern mit vielfältigen Fragen zur Lage in der UVR und zu angeblich bevorstehenden Reisebeschränkungen in die UVR konfrontiert zu werden, auf die sie keine Antwort geben können. Dadurch seien sie verunsichert.
Es mangele an überzeugenden Argumenten, und deshalb erwarte man entsprechende konkrete Parteiinformationen. Die immer wieder in den Reden führender Repräsentanten unserer Länder enthaltene Aussage, jedes sozialistische Land müsse seinen eigenen Weg bei der Gestaltung der sozialistischen Gesellschaftsordnung gehen, sei angesichts der Vorgänge in der UVR und in einigen anderen sozialistischen Staaten kein überzeugendes Argument.