Reaktionen der Bevölkerung zur Neuwahl des SED-Politbüros
9. November 1989
Hinweise auf erste beachtenswerte Reaktionen zur Neuwahl des Politbüros auf der 10. Tagung des ZK der SED [Bericht O/233]
In ersten bekannt gewordenen Diskussionen insbesondere von Mitgliedern und Funktionären der SED wurden der Rücktritt der Parteiführung und die erfolgte Neuwahl des Politbüros des ZK der SED als längst überfällig und als dringendes Erfordernis bewertet.1
Besonders heftige Reaktionen löste die Mitteilung über die Wiederwahl des Genossen Böhme2 in das Politbüro des ZK der SED im Bezirk Halle aus.
Zahlreiche Mitglieder und Funktionäre der SED in Kombinaten, Betrieben und staatlichen Organen, in wissenschaftlichen Einrichtungen, an der Martin-Luther-Universität und an Hochschulen sowie parteilose Werktätige lehnen nahezu übereinstimmend seine Wiederwahl ab und äußern Empörung über diese Entscheidung des ZK der SED.
Ständig wiederkehrend werden derartige Haltungen begründet mit
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der Handlungsunfähigkeit und politisch falschen Entscheidungen der SED-Bezirksleitung Halle,
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dem Unvermögen des Genossen Böhme zur Dialogführung,
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seiner fehlenden Bereitschaft, aus der begonnenen Politik der Wende die richtigen Schlussfolgerungen abzuleiten und durchzusetzen.
Wiederholt wurde unter Bezugnahme auf vor der ZK-Sitzung an den Generalsekretär des ZK der SED gerichtete Schreiben von Grundorganisationen, in denen dieser aufgefordert worden sei, eine Wiederwahl des Genossen Böhme zu verhindern, argumentiert, dass der Parteiführung jeglicher politischer Weitblick abhanden gekommen sei. Damit verliere die SED bei den Werktätigen weiter an Vertrauen.
Vorliegenden Hinweisen zufolge kündigten zahlreiche Parteimitglieder aus Betrieben (u. a. Kombinat Leuna-Werke, Kombinat Chemische Werke Buna, VEB Pumpenwerk Halle) und staatlichen Organen (Rat des Bezirkes) spontan ihren Austritt aus der SED an bzw. vollzogen bereits diesen Schritt.
SED-Grundorganisationen des Kombinates Leuna-Werke wollen am 9. November in einem an das ZK der SED gerichteten Schreiben mit Nachdruck die Ablösung des Genossen Böhme von seinen Parteifunktionen fordern.
Eine Vielzahl von APO-Sekretären vertritt in diesem Zusammenhang die Auffassung, der Druck an der Basis werde so stark, dass nachgegeben werden müsse. Parteimitglieder dieses Kombinates äußerten außerdem die Absicht, am 13. November 1989 öffentlich in Halle gegen die Wiederwahl zu protestieren und dabei demonstrativ ihre Parteidokumente abzulegen.
Im Kombinat Chemische Werke Buna wird von Arbeitern die Durchführung von Streiks in Erwägung gezogen, um den Rücktritt des Genossen Böhme zu erzwingen. Im Bereich Medizin der Martin-Luther-Universität wurde bereits ein Streik sowie eine Protestveranstaltung auf dem Universitätsplatz für den 10. November 1989 angekündigt. SED-Mitglieder dieser Universität, Pädagogen und Angehörige der bewaffneten Organe befürchten eine weitere Verschärfung der Lage im Bezirk Halle und schließen die Möglichkeit von Gewalthandlungen gegen das Objekt der SED-Bezirksleitung nicht aus.