Seminar zu Volkbildungsfragen
[ohne Datum]
Information Nr. 269/89 über die Durchführung eines von feindlichen, oppositionellen Kräften organisierten sogenannten Seminars zu Volksbildungsfragen in der Hauptstadt der DDR, Berlin
Nach dem MfS streng intern vorliegenden Hinweisen wurde von hinlänglich bekannten Kräften des »Friedenskreises Weißensee«1 im Zeitraum vom 26. bis 28. Mai 1989 im Evangelischen Gemeindezentrum Berlin-Weißensee ein längerfristig vorbereitetes sogenanntes Seminar zu Volksbildungsfragen durchgeführt.2 Diese Veranstaltung, die unter dem Motto »Forum für alle, die sich von der Existenzform unseres Volksbildungswesens be(ge)troffen fühlen« stand, ordnet sich ein in Vorgehensweisen und Vorhaben feindlicher, oppositioneller und kirchlicher Kräfte in der DDR gegen die sozialistische Bildungs- und Erziehungspolitik und den IX. Pädagogischen Kongress3 (vgl. dazu Information des MfS Nr. 183/89 vom 20. April 1989). Zu den Hauptakteuren gehört der Diakon der evangelischen Kirchengemeinde Berlin-Hohenschönhausen, Mario Schatta,4 (maßgeblicher Inspirator und Organisator »flächendeckender« Kontrollen in Wahllokalen insbesondere des Stadtbezirkes Berlin-Weißensee und einer der aktivsten Kräfte bei der öffentlichen Verbreitung von Auffassungen über angebliche Manipulationen der Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 in der DDR).5 An einzelnen Veranstaltungen im Rahmen des »Seminars«, das keine Öffentlichkeitswirksamkeit erreichte, nahmen bis zu 80 Personen teil.
Der Veranstaltungsverlauf war durch drei Referate, die anschließende Arbeit in Gruppen und ein Podiumsgespräch gekennzeichnet. Bis auf kurze Tagesgottesdienste gab es keinerlei religiösen Bezug; die Inhalte des »Seminars« waren ausschließlich politisch geprägt.
Der zunehmend in politisch negative Aktivitäten personeller Zusammenschlüsse einbezogene Mitarbeiter am Zentralinstitut für Molekularbiologie der Akademie der Wissenschaften der DDR, Prof. Dr. Jens Reich,6 referierte u. a. zur Lehrplangestaltung in der Volksbildung. Er kritisierte die gültigen Lehrpläne, die nach seiner Auffassung zu stark auf Faktenvermittlung orientiert seien, Kreativität und Phantasie der Schüler nur ungenügend fördern und zur Persönlichkeitsentwicklung wenig beitragen würden. Seinen Ausführungen zufolge würde die Leistungsorientierung an den Schulen mögliche Eigeninitiativen der Schüler »bremsen«. Als Alternative orientierte Reich auf »Selbstbestimmung und Selbsterziehung« der Schüler.
Der hinlänglich bekannte Inspirator/Organisator politischer Untergrundtätigkeit, Mißlitz,7 Berlin, (besonders aktiv wirksam in dem personellen Zusammenschluss »Kirche von Unten«8) versuchte sich an einer »Darstellung der Geschichte der Volksbildung in der DDR«. Dabei unterstellte er der Volksbildung, beginnend ab Anfang der 1960er Jahre, undemokratische Tendenzen und behauptete, dass die günstige Ausgangsposition für eine demokratische Entwicklung der Volksbildung durch eine zunehmende Bürokratisierung und »verfestigte Machtstrukturen« zunichte gemacht worden sei. Unter Verweis auf die bekannten Ereignisse an der Erweiterten Oberschule »Carl von Ossietzky« in Berlin-Pankow äußerte er,9 für Schüler und Eltern bestünden gegenwärtig nur geringe, formale Mitwirkungsmöglichkeiten. Davon ausgehend forderte Mißlitz mehr Mitspracherecht, so u. a. das Recht auf Einsichtnahme in Schülerakten durch die Eltern und die Möglichkeit der Bildung von Schülerräten.
Zum Thema »Warum befassen sich Christen mit der Volksbildung« referierte der Leiter der Kirchlichen Erziehungskammer der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, Dr. Reiher,10 (Reiher befasst sich mit konzeptionellen Überlegungen zur Bildungsproblematik, insbesondere mit der Suche nach sogenannten alternativen Bildungsangeboten. Im Rahmen von Veranstaltungen, so in einer im März 1989 von der Evangelischen Studentengemeinde Greifswald durchgeführten, trug er Angriffe gegen die sozialistische Bildung und Erziehung vor. Die Kirchliche Erziehungskammer war bereits im April 1989 Mitorganisator der in Potsdam durchgeführten sogenannten Pädagogischen Werkstatt unter dem Motto »Beratungen über gegenwärtiges und zukünftiges pädagogisches Handeln in Gesellschaft und Kirche«11). Reiher forderte in seinen Darlegungen u. a. die Aufnahme von Inhalten des Evangeliums in die Lehrpläne der Schulen in der DDR, mehr Freiräume für die eigenständige Entwicklung der Schüler sowie den »Abbau von Vorurteilen bei politischem Zweckverhalten«, z. B. bei der Vergabe von Studienplätzen, und wandte sich gegen eine »Totalerziehung«.
In den drei gebildeten Arbeitsgruppen – eine davon wurde von dem genannten Schatta geleitet – befassten sich die Teilnehmer mit den Themenstellungen
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»Aufbau und Struktur der Volksbildung, Machtstrukturen der Volksbildung, Volksbildung im gesamtgesellschaftlichen Kontext« (Diskussion u. a. um Veränderung der Lehrpläne, des Abschaffens des Zensurensystems, der Erweiterung der Mitbestimmung für Eltern und Schüler),
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»Ziele, Inhalte, Methoden und Folgen der kommunistischen Erziehung« sowie
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»Spannung zwischen christlicher und kommunistischer Erziehung am Beispiel Wehrerziehung als latente Vorbereitung auf den Wehrdienst«.
Im Ergebnis der Diskussionen in den beiden letztgenannten thematischen Arbeitsgruppen wurden je ein »offener Brief« an das Ministerium für Volksbildung der DDR erarbeitet und zum Teil zu Unterschriftenleistungen dazu aufgefordert. (Die Brieftexte sind der Information als Anlage beigefügt.)
Unter Bezugnahme auf das Sicheinsetzenwollen für eine »neue Kultur des politischen Streits« und der Mitwirkung bei der »Inangriffnahme und Erschließung neuer Denkmodelle« werden in den genannten Schreiben erneut Forderungen nach Sachgesprächen mit der Volksbildung erhoben. Weitere Einzelforderungen beziehen sich auf eine »demokratische Umgestaltung« in der DDR einschließlich der »Demokratisierung des Bildungssystems« und der Schaffung von Voraussetzungen zur Erarbeitung eines »basisdemokratischen Modells« der Volksbildung sowie auf die Entfernung aller militärischen und paramilitärischen Elemente aus dem System der Volksbildung einschließlich der Abschaffung der vormilitärischen Ausbildung, des Unterrichtsfaches Wehrerziehung12 und der »Feindbildprojektion«.
Über einen in Verantwortung der ersten Arbeitsgruppe zu erarbeitenden »Offenen Brief« an den IX. Pädagogischen Kongress konnte keine Einigung erzielt werden. Die Diskussion dazu solle fortgesetzt werden.
Eine abschließende Podiumsdiskussion, in der die bereits in den Arbeitsgruppen diskutierten Inhalte wiederholt bzw. bestätigt wurden, stand unter dem Motto: »Volksbildung im Spannungsfeld zwischen dem Anspruch der zielgerichteten Einwirkung auf die allseitige Entwicklung der sozialistischen Persönlichkeit und der Individualität des Schülers«. Als Gesprächspartner im Rahmen dieser Podiumsdiskussion fungierte neben Schatta und einem weiteren Theologen der von der EOS »Carl von Ossietzky« relegierte Schüler Benjamin Lindner.13
Im Rahmen des sogenannten Seminars zu Volksbildungsfragen trat der Liedermacher Karl-Heinz Bomberg14 mit seinem bekannten Programm politisch negativen Inhalts »Ja – aber!« auf. Aussagen zur Volksbildung wurden darin nur tangiert.
Nach ersten vorliegenden Hinweisen seitens der Organisatoren schätzen diese intern ein, das mit der Veranstaltung angestrebte Ziel nicht erreicht zu haben. Insbesondere sei es ihnen nicht gelungen, Ansprechpartner aus dem Bereich der Volksbildung zu gewinnen und eine polemische Diskussion zu gestalten.
Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.
Anlage 1 zur Information Nr. 269/89
[Abschrift eines offenen Briefs der Teilnehmer des Volksbildungsseminars an das Ministerium für Volksbildung]
Ministerium für Volksbildung | Unter den Linden | Berlin | 1086 | Berlin, den 29.5.1989 | Max-Steinke-Straße
Offener Brief
Im Rahmen eines Forums zu Fragen der Volksbildung nehmen wir Teilnehmer, die wir gleichzeitig als Betroffene unser Unbehagen am existierenden Volksbildungssystem äußerten, die Gelegenheit wahr, uns mit unserer Kritik und unseren Vorschlägen an das Ministerium für Volksbildung zu wenden (Paragraph 24 der Schulordnung).15
Ermutigt werden wir unter anderem durch Publikationen von Dr. Dieter Kirchhöfer16 (Sonntag 15/89),17 Rudolf Waterstradt18 (Weltbühne 7/89),19 Achim Hoffmann20 (Weltbühne 9/89)21 sowie die Veröffentlichung über die Konferenz zur biopsychosozialen Einheit Mensch (Sonntag 9/89).22 Die »Organisation solcher pädagogischer Bedingungen, in denen sich der Heranwachsende die menschlichen Wesenskräfte selbst aneignet und sich so als Persönlichkeit entwickelt« (Kirchhöfer Sonntag 15/89) ist nach unseren Erfahrungen Grundvoraussetzung für notwendige Änderungen. Wir stellen unter Kindern und Jugendlichen Entwicklungen fest, die unsere Besorgnis erregen, wie unter anderem
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fehlende Mitverantwortung gegenüber Umwelt, Natur und gesellschaftlichem Eigentum,
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Rückzug ins Private,
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gestörte Partnerschaftsbeziehungen (hohe Scheidungsrate),
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Unselbstständigkeit,
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wenig gesellschaftliches Engagement,
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konsumorientierte Lebenshaltung,
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zunehmende Verhaltensstörungen bei Kindern im Schulalter,
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fehlende Ehrlichkeit (private und öffentliche Meinung).
Erfolgreiche Änderungen sind nur möglich, wenn die Fremdbestimmung von Schülern und Lehrern aufhört, wenn die Einstellung zum Kind als Subjekt selbstverständlich wird (Kirchhöfer Sonntag 9/89).23
Unsere Änderungsvorschläge:
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Die notwendige demokratische Umgestaltung unseres Landes als Grundvoraussetzung, um eine handlungsfähige Volksbildung zu schaffen;
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die aktive Teilnahme aller gesellschaftlichen Schichten im Rahmen einer uneingeschränkten Öffentlichkeit an allen Schulfragen (KPD-Forderung von 1922);24
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Einführung der gesetzlichen Möglichkeit für Teilzeitarbeit (Christine Emmrich25 – Sowjetfrau 2/89);26
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gleichzeitig gesellschaftliche Anerkennung der Mütter bzw. Väter und die Möglichkeit für jede Frau/Mann, sich in der Betreuungszeit der Kinder weiterzubilden;
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in allen zu schaffenden Gremien Diskussion und Erarbeitung eines basisdemokratischen Modells der Volksbildung (Dezentralisierung der Verwaltung, Selbstverwaltung der Schulen);
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Hauptaufgabe wäre die Erarbeitung von Sozial- und Demokratiefähigkeit;
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Verabschiedung der Lehrpläne durch beschlussfassende Elternversammlungen;
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Einführung von zyklischer Abwählbarkeit der Verwaltung;
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Abzug der Parteijugendorganisation aus der Schule;
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Schaffung einer Schülermitbestimmung;
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Erarbeitung und Kontrolle der Lehrpläne durch öffentliche Gremien (z. B. Akademien, Künstlerverbände, Gewerkschaften, Eltern und Schüler);
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Entideologisierung, Enttabuisierung, Entnormung der Volksbildung.
Es handelt sich hierbei nicht um Maximalforderungen, sondern um die Inangriffnahme und Erschließung neuer Denkmodelle, die in einer Zeit weltweiter Endzeitstimmung endlich gewagt werden müssen. Auch gesellschaftliche Erfahrungslosigkeit darf nicht davon abhalten, die ersten entscheidenden Schritte zu tun. Wir sind sehr an einem konstruktiven Gespräch mit Ihnen interessiert, um diese Schritte gemeinsam zu gehen.
Teilnehmer des Volksbildungsseminars
Nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch
Anlage 2 zur Information Nr. 269/89
[Kopie einer Eingabe der Teilnehmer des Volksbildungsseminars an das Ministerium für Volksbildung]
Ministerium für Volksbildung | Unter den Linden | Berlin | 1086 | z. Hd. Frau Honecker27 | Berlin, den 28.5.1989
Eingabe – offener Brief
Werte Frau Honecker!
Wir haben uns im Rahmen eines pädagogischen Seminars intensiv mit Schulbüchern und Lehrplänen beschäftigt. Uns macht betroffen, in welchem Maße militärische Strukturen und Inhalte Grundlage für den Unterricht sind.
In dem 1987 veröffentlichten SPD-SED-Papier »Der Streit um die Ideologien«28 heißt es unter anderem: »Unsere weltgeschichtliche neue Situation besteht darin, dass die Menschheit nur noch gemeinsam überleben oder untergehen kann. Eine solche Alternative ... verlange ein politisches Denken, das historisch ohne Beispiel ist, ein neues Herangehen an die internationalen Angelegenheiten besonders an die Sicherung des Friedens. Der Krieg darf kein Mittel der Politik mehr sein ... Dazu ist auf beiden Seiten nötig ... die Fähigkeit zum Dialog, zur Vertrauensbildung, zum Konsens, zum Abbau von Misstrauen und Bedrohungsängsten ... ausschlaggebend für eine neue Kultur des politischen Streitens, ist also eine realistische und differenzierte Analyse und Darstellung der anderen Seite statt Propagierung pauschaler Feindbilder und Weckung von Bedrohungsängsten«.
Ihre Partei hat sich verpflichtet, Einsichten und Schlussfolgerungen aus diesem Papier zu verwirklichen. Wir, eine Gruppe politisch und pädagogisch interessierter Menschen, möchten die eingegangenen Versprechungen anmahnen. Uns geht es um die Erfüllung dieser Versprechen in unserem Land und konkret in der Volksbildung.
Ein Blick in Schulbücher, Lehrpläne und Anleitungsmaterial für Kindergärtner, das sich als wissenschaftlich und objektiv präsentiert, genügt, pauschale Feindbilder und politische Darstellung der westlichen Welt und schließlich die sehr, sehr alte Kultur des militärischen Streites zu erkennen.
Dieses wird als wissenschaftlicher Lehrstoff vermittelt, und gleichzeitig als Werte unserer Gesellschaft dargestellt. Ohne Beseitigung des Anachronismus,29 Wehrerziehung in der Volksbildung, ohne den Verzicht auf Vermittlung von Bedrohungsängsten und politisches Anheizen ist eine sachbezogene und kreative Lösung der Menschheitsprobleme nicht denkbar.
Deshalb fordern wir:
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Entfernung von militärischen und militärverherrlichenden Inhalten aus den Lehrbüchern;
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Abschaffung des Faches Wehrerziehung;
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Abschaffung der vormilitärischen Ausbildung;
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eindeutige Trennung der GST von der Volksbildung;
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kein militärisches Spielzeug in kinderbetreuenden Einrichtungen;
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Herauslösen der Pionierorganisation und der FDJ aus ihrer jetzigen paramilitärischen Struktur;
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Wegfall einer Feindbildprojektion;
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Abschaffung militärischer Normen im Sportunterricht;
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Wegfall der (militärischen) Meldung vor dem Unterricht.