Tagung der Evangelischen Akademie am 14.1.
[ohne Datum]
Information Nr. 36/89 über eine Tagung der Evangelischen Akademie in Berlin-Brandenburg am 14. Januar 1989 in Berlin
Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen führte die Evangelische Akademie in Berlin-Brandenburg am 14. Januar 1989 in der Friedenskirche der Stephanus-Stiftung Berlin-Weißensee eine Tagung zum Thema »Welcher Zukunft zugewandt – die beiden Deutschlands nach 40 Jahren« durch, an der ca. 400 Personen teilnahmen.
Im Mittelpunkt dieser Tagung, die durch den Pfarrer Graupner1 geleitet wurde, stand ein Vortrag des ehemaligen Leiters der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR, Gaus, Günter,2 zu dem vorgenannten Thema.
Gaus ging in seinen Darlegungen auf bekannte bürgerliche Positionen der BRD, insbesondere der SPD, zur »Deutschlandfrage« aus seiner persönlichen Sicht ein. Ausgehend von Gemeinsamkeiten und Gegensätzen beider deutscher Staaten konstatierte er ein Interessengefälle und behauptete, dass die DDR und ihre Bürger stärker an der BRD interessiert seien als umgekehrt. Das Interesse der Bundesbürger an den Problemen der DDR und ihren Bürgern nehme weiter ab.
In beiden Staaten gebe es »redliche Menschen«, jedoch auch Menschen, die nicht mit dem »Strom schwimmen« und in »Nischen« leben würden. Der Unterschied beider Systeme sei z. B., dass in der BRD diese »Nischen« zugegeben würden, in der DDR jedoch nicht.
In den Beziehungen zwischen der DDR und der BRD spielten oftmals nur einseitig die Probleme der DDR eine Rolle. Die Verständigung beider deutscher Staaten und menschliche Begegnungen müssten in Zukunft stärker gemeinsame Interessen zu Überlebensfragen der Menschheit, wie Friedens- und Umweltprobleme, zum Inhalt haben.
Zur nationalen Frage vertrat Gaus den Standpunkt, dass jede Nation vor allem durch Grundwerte, die einen sogenannten festen Sockel darstellten, geprägt sei, wie z. B. durch die Sprache. Soziale Faktoren, Religion und andere Werte seien variable Größen, welche jedoch in der Entwicklung einen neuen »festen Sockel« und damit eine neue Nation begründen könnten. In der DDR hätte sich kein neues Nationalgefühl herausgebildet, jedoch ein neues Staatsgefühl. Ihm (Gaus) seien jedoch der Frieden und der Umweltschutz wichtiger als die nationale Frage.
Im Verlaufe seines Vortrages ging Gaus im Zusammenhang mit Ausführungen zu Problemen der ständigen Ausreise von Bürgern der DDR auch auf die Wirkung westlicher Massenmedien ein und erklärte, durch deren Einfluss würden die Qualitätskriterien des Lebens in der DDR stark mitbestimmt.3
Zu einer möglichen Wiedervereinigung Deutschlands erklärte Gaus, die Mehrheit der BRD-Bürger habe andere Sorgen und Probleme als die Überwindung der Teilung. Deutschland habe viel Unglück über Europa gebracht. Schon von daher brauche die Welt kein vereinigtes Deutschland.
Unter Bezugnahme auf Erscheinungen zunehmender Politisierung kirchlichen Wirkens in der DDR erklärte Gaus, die Kirche könne auf die Dauer kein Hort der politisch-engagierten Emanzipationsbewegung sein. Diese Bewegung müsse früher oder später durch die Partei selbst übernommen werden.
Im Anschluss an die Ausführungen von Gaus referierte der an der Botschaft der USA in der DDR abgedeckt tätige Mitarbeiter der USA-Geheimdienstresidentur, Dr. Lipping, Imre,4 2. Sekretär der Politischen Abteilung zum Thema »Prinzipien der amerikanischen Deutschlandpolitik«. Dr. Lipping stellte sich zu Beginn seines Beitrages kurz vor. Er sei vorher in Südafrika tätig gewesen, und in zwei bis drei Jahren werde er die USA wieder in einem anderen Land diplomatisch vertreten.
In seinem zwanzigminütigen Vortrag und in der anschließenden Diskussion konzentrierte sich Lipping im Wesentlichen auf die Darlegung der politisch bekannten Positionen der USA zur historischen Entwicklung der »Deutschlandpolitik« und zu Problemen der gegenwärtigen Haltung der USA zu beiden deutschen Staaten.
Die USA würden die »Ostpolitik« der BRD,5 welche darauf gerichtet sei, »Löcher in die Mauer zu schlagen«, voll unterstützen. Lipping selbst befürwortete die »Ostpolitik« der BRD-Regierung »durchgehend seit dem Amtsantritt von Bundeskanzler Brandt«.6
Ausführlich ging Lipping auf die Pläne sowie Politik ehemaliger Präsidenten der USA (Roosevelt,7 Truman,8 Nixon9) zur Lösung der Deutschlandfrage ein und versuchte durch Beispiele aus der geschichtlichen Entwicklung nach 1945 nachzuweisen, dass das Ziel der Politik der USA stets auf einen einheitlichen deutschen Staat mit bürgerlich-demokratischem Charakter ausgerichtet gewesen sei.
Als positives Ergebnis konstatierte er, dass diese Politik letztlich zu einem europäischen Vertragswerk, angefangen von den Grundsatzverträgen,10 geführt hat und die USA die DDR schließlich diplomatisch anerkannt haben.
Nach Meinung von Lipping wurden mit dem Potsdamer Abkommen11 das Entstehen der beiden deutschen Staaten und die Weichen für den Kalten Krieg gestellt. In diesem Zusammenhang wiederholte Lipping bekannte Positionen der US-Administration wie:
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das vierseitige Abkommen sei nach wie vor für das gesamte Berlin gültig, es werde zwar unterschiedlich ausgelegt, jedoch stehe fest, dass Westberlin kein Bestandteil der BRD sei;
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das Festhalten an der Politik der Stärke wäre eine Lehre der Geschichte, denn nur so hätte der Frieden seit 1945 erhalten werden können;
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eine Wiedervereinigung Deutschlands auf freiheitlich-demokratischer Grundlage wäre nur möglich, wenn auch die anderen Staaten Osteuropas im Sinne des westlichen Demokratieverständnisses »frei« wären.
Das zukünftige Schicksal Deutschlands müsse heute in erster Linie selbst von den beiden deutschen Staaten entschieden werden. Er verwies dabei auf die Politik zu einem gemeinsamen Haus Europa.12
Er glaube nicht an eine mögliche Wiedervereinigung, da diese auch bei westeuropäischen Staaten auf konsequente Ablehnung stoße. Es könne eine zunehmende Einigkeit und Einvernehmung beider deutscher Staaten geben, aber keine deutsche Einheit.
Bezug nehmend auf die von der UdSSR verkündete einseitige Truppenreduzierung13 behauptete Lipping, durch die USA seien keine adäquaten Maßnahmen notwendig, da die Warschauer Vertragsstaaten14 auf konventionellem Gebiet den USA und ihren westeuropäischen Verbündeten weit überlegen wären.
In abwertender und zum Teil anmaßender Art bezeichnete er die jüngsten Abrüstungsvorschläge und Friedensinitiativen des Generalsekretärs des ZK der KPdSU und Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets, Genossen Gorbatschow,15 als propagandistischen Schachzug, der international nicht ohne Wirkung gewesen sei.
Auf eine von den Besuchern direkt an ihn gerichtete Frage, ob denn die USA auch »neues Denken« nötig haben, äußerte sich Lipping dahingehend, dass dieses für die USA nicht notwendig sei, denn die Vorschläge des Genossen Gorbatschow, die Welt bis zum Jahre 2000 atomwaffenfrei zu machen,16 halte er für illusionär und damit nicht realisierbar. Aus seiner Sicht müsse die USA die Politik der Abschreckung fortsetzen, da nur so die Welt sicherer gemacht werden könne.
Die Äußerungen Lippings stießen bei vielen Anwesenden auf Ablehnung und Unverständnis. Er wurde wiederholt durch Zwischenrufe und Unmutsäußerungen unterbrochen.
Durch den Veranstaltungsleiter, Pfarrer Graupner, wurden die anwesenden Gäste mehrfach aufgefordert, Disziplin zu bewahren und den Referenten ausreden zu lassen.
Durch Teilnehmer der Tagung wurde in anschließenden Pausengesprächen das Auftreten Lippings insgesamt als anmaßend, arrogant und nicht zeitgemäß bewertet.
Darüber hinaus wurden seine Kenntnisse zur deutschen Geschichte als sehr lückenhaft und oberflächlich eingeschätzt.
Im Weiteren wurde kritisch festgestellt, dass Lipping weder im Vortrag noch in der Diskussion substantielle Aussagen zum eigentlichen Thema machte, sondern vordergründig die Politik der US-Administration propagierte.
Mit einer abschließenden Podiumsdiskussion mit den beiden Referenten Gaus und Lipping sowie mit dem ebenfalls anwesenden Generalsuperintendenten der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, Krusche,17 und dem Schriftsteller Hermlin, Stephan18 fand die Tagung ihren Abschluss.
Generalsuperintendent Krusche, Günter legte während der Podiumsdiskussion dar, dass er die Befreiung 1945 nicht als Befreiung erlebt habe und die Teilung Deutschlands für ihn immer eine Last gewesen sei. Er könne die Teilung auch als eine Katastrophe betrachten, was jedoch keinem weiterhelfe. Es käme darauf an zu lernen, mit Gegebenheiten besser umzugehen und sich für ein immer entspannteres und friedlicheres Nebeneinander einzusetzen.
Er glaube nicht an eine Wiedervereinigung. Auch junge Menschen in der DDR seien nicht für eine Wiedervereinigung, sondern für Veränderungen in der DDR. Wichtiger sei es für die Zukunft, sich für die Einheit Europas einzusetzen.
Hermlin, der sich nur an der Podiumsdiskussion beteiligte, verwies darauf, dass es in der Geschichte nie ein einheitliches Deutschland gegeben habe und schon von daher es nicht um Wiedervereinigung oder die Einheit Deutschlands gehen könne.
Die von den Teilnehmern gestellten Anfragen enthielten keine offenen feindlich-negativen Angriffe gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR.
Die Information ist nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.