Tagung des »Neuen Forums« am 25./26.11.
2. Dezember 1989
Information Nr. 518/89 über einige beachtenswerte Aspekte der am 25. und 26. November 1989 durchgeführten Tagung des Neuen Forums zur Thematik »Erfahrungen der Reformen in Osteuropa und die Wirtschaftsreform in der DDR unter Berücksichtigung der politischen Konstellation beider deutscher Staaten«
Nach dem Amt für Nationale Sicherheit der DDR1 vorliegenden Hinweisen fand am 25. und 26. November 1989 unter Teilnahme von ca. 400 bzw. 350 Personen eine von der »Gruppe Ökonomie« des Neuen Forums Berlin-Pankow2 organisierte wissenschaftliche Konferenz in einer Versorgungseinrichtung der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin-Buch zu vorgenannter Thematik statt. Der teilnehmende Personenkreis setzte sich sowohl aus Vertretern der DDR-Wirtschaft, der Wirtschaftswissenschaften (u. a. Wissenschaftler der Hochschule für Ökonomie »Bruno Leuschner«), Vertretern von Bürgerbewegungen der DDR (neben Neues Forum auch der SDP3 und des Demokratischen Aufbruchs4) als auch 50 bis 60 Personen aus der BRD zusammen, darunter Vertreter der Bundesministerien für Wirtschaft und für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR, aus interessierten Industriekreisen sowie bürgerliche Ökonomen und Mitglieder der Alternativen Liste aus Berlin (West).
Ausgehend von der Vielschichtigkeit des Teilnehmerkreises sowie des Gesamtablaufs der Veranstaltungen ist einzuschätzen, dass die »Gruppe Ökonomie« des Neuen Forums Berlin-Pankow über umfangreiche Kontakte sowohl in der DDR als auch nach der BRD sowie über erforderliche organisatorische Voraussetzungen für die Organisierung derartiger Veranstaltungen verfügt.
Das vom Organisationskomitee der »Gruppe Ökonomie« des Neuen Forums Berlin-Pankow verfolgte Anliegen bestand offensichtlich darin, eine Verständigung zwischen Vertretern aus Theorie und Praxis beider deutscher Staaten über Ziele, Möglichkeiten und Maßnahmen zur Überwindung der Wirtschaftsprobleme in der DDR herbeizuführen. Ein dazu vorbereiteter, 17 Thesen umfassender Diskussionsvorschlag beinhaltete eigene, ein breites ökonomisches Spektrum umfassende Lösungsvorschläge und Forderungen, die vor einem ökonomisch gebildeten Auditorium auf ihre Wirksamkeit hin getestet werden sollten.
Damit strebte man einen Beitrag zur Qualifizierung der Arbeit des Neuen Forums auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik an, um letztlich eine Plattform zur Schaffung eines Gegenkonzeptes zur Wirtschaftspolitik der SED, wie sie im Aktionsprogramm der SED5 und in der Regierungserklärung des Ministerpräsidenten,6 Genossen Dr. Modrow,7 zum Ausdruck kommt, zu bilden.
Einer der Hauptorganisatoren der wissenschaftlichen Tagung, Dr. rer. oec. Pavel Strohner,8 Zentralinstitut für Isotopen- und Strahlenforschung der Akademie der Wissenschaften der DDR, bezeichnete es als Ziel des Neuen Forums, den stalinistischen Sozialismus in der DDR abzuschaffen. Dabei beabsichtige man positive wie negative Erfahrungen anderer sozialistischer Länder wie UdSSR, Polen, Ungarn zu nutzen, um zu einem demokratischen Sozialismus, gekennzeichnet durch freie Marktwirtschaft (bis auf wenige Bereiche) mit den bisher erreichten sozialen Errungenschaften, zu kommen. Dieser müsse sich von »der Kommandowirtschaft des Stalinismus, aber auch von der Ellbogengesellschaft einer M. Thatcher9 deutlich abheben«.
Eine umfangreiche und allseitige Beteiligung der BRD an diesem Prozess wird dabei vorausgesetzt. (Die Möglichkeit einer ökonomischen Konföderation zwischen beiden deutschen Staaten werde nicht ausgeschlossen.)
Im Tagungsverlauf rief Dr. Strohner darüber hinaus dazu auf, eine »Gesellschaft der Ökonomen« zu gründen, um neues Denken aufzunehmen und eine breitere und qualifizierte Aussprache und Verbreitung von neuen ökonomischen Lösungen in der DDR zu erreichen.
In den Vorträgen von Vertretern des Neuen Forums wurde ein hoher Grad von Sachkompetenz bei der Bewertung der objektiven Lage in der Volkswirtschaft der DDR und Kreativität bezüglich des Aufzeigens von Vorstellungen über Lösungsvarianten auf verschiedenen Teilgebieten deutlich.
Insgesamt war jedoch keiner der Teilnehmer an der Veranstaltung in der Lage, ein entsprechend wirkungsvolles ökonomisches Instrumentarium anzubieten und die Auswirkungen der angebotenen Lösungsvarianten auf die einzelnen Wirtschaftsbereiche sowie die Ökonomie der DDR insgesamt abzuschätzen.
Einen umfangreichen Beitrag zur Tagung leisteten anwesende Wissenschaftler der Hochschule für Ökonomie »Bruno Leuschner« (u. a. Dr. sc. Klein,10 Institut für Ökonomie der Entwicklungsländer der Sektion Außenwirtschaft für das Neue Forum; Prof. Dr. Wilde,11 Sektion für Wirtschaftsinformatik; Prof. Dr. emer. Steinberger12 und Prof. Dr. Haustein,13 Sektion Sozialistische Volkswirtschaft, Wissenschaftsbereich für Volkswirtschaftsplanung; Prof. Dr. Otto14).
In ihren Ausführungen vertraten sie überwiegend Positionen des Neuen Forums mit einer teilweise starken Anlehnung an die bürgerliche Ökonomie. Zugleich wurde deutlich, dass ihren theoretischen Aussagen kein ausreichender praktischer Erfahrungsschatz zugrunde liegt (im Wesentlichen thesenhafte Darstellungen) und sie es deshalb vermieden, entsprechende Schlussfolgerungen für die konkrete Umsetzung der geplanten Wirtschaftsreform in der DDR zu ziehen.
Das zeigt sich an ihren Darstellungen unter Verwendung von Begriffen und Kategorien aus der bürgerlichen Ökonomie, wie »Sozialisierung von Eigentum und Macht« (Prof. Dr. Klein), an der Forderung nach Herausbildung eines »lukrativen Kapitalmarktes« in der DDR (Prof. Dr. Wilde) bzw. nach Schaffung eines »Kapital- und Arbeitsmarktes bei Aufrechterhaltung von Vollbeschäftigung« (Prof. Dr. Haustein).
Deutlich wurden auch Bestrebungen nach vollständiger Abschaffung bisheriger Formen, Mittel und Methoden der Planung, zur Beschränkung der Rolle des Staates auf beratende bzw. orientierende Funktionen im Wirtschaftsleben sowie nach einer entschiedenen Entflechtung der Kombinate und umfassender Zulassung von Klein- und Mittelbetrieben der verschiedenen Eigentumsformen.
Nicht zuletzt wurden Standpunkte geäußert zur Herausbildung von »Selbstorganisationen der Arbeiter«, verbunden mit der Möglichkeit, die Vertrauensfrage gegenüber Betriebsleitungen stellen zu können.
Trotz Meinungsvielfalt und Verschiedenartigkeit der während der Tagung vorgebrachten Positionen war man sich einig in der Forderung nach Offenlegung aller Wirtschaftsdaten sowie der notwendigen Ablösung der Minister Dr. Schürer,15 Dr. Beil16 sowie des Staatssekretärs Dr. Schalck-Golodkowski.17
Auf offene Ablehnung stießen die Ausführungen der Vertreter des Institutes für Internationale Politik und Wirtschaft (IPW), Prof. Kulke-Fiedler18 und Dr. Vogel,19 sowie der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Prof. Dr. Engert.20 Ihre Vorträge seien nach vorliegenden Hinweisen phrasenhaft gewesen und hätten die aktuelle Wirtschaftssituation in der DDR außer Acht gelassen.
Sie hätten sich ferner nicht kritisch mit der bisherigen Wirtschaftspolitik auseinandergesetzt und haben dem Grunde nach eine Verteidigungsposition zur bisherigen Praxis auf diesem Gebiet eingenommen.
Mit außerordentlich starkem Interesse verfolgten die Tagungsteilnehmer die Darlegungen der BRD-Vertreter Prof. Haffner21 (Professor für Wirtschaft und Gesellschaft Osteuropas an der Universität München), Tyll Necker22 (BDI), Michael Baumann23 (Bundeswirtschaftsministerium) und Holger Schmieding24 (Institut für Weltwirtschaft Kiel) zur Wirtschaftsreform in der DDR. Dabei wurden folgende Positionen der BRD-Seite erkennbar:
Die BRD ist bereit und stark interessiert, das ökonomische Leben in der DDR massiv zu beeinflussen und mitzugestalten. Jedoch nur unter Aufgabe wesentlicher Elemente der sozialistischen Produktionsverhältnisse sei man bereit, zur Effektivierung der Volkswirtschaft der DDR, einschließlich deren Weltmarktfähigkeit, durch engste Verflechtung von BRD- und DDR-Wirtschaft beizutragen. Dazu müssten seitens der DDR bestimmte Bedingungen geschaffen werden wie z. B.
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Veränderung bzw. Aufgabe bisheriger Eigentumsformen,
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unverzügliche Herstellung der Konvertibilität der Währung der DDR,
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Offenlegung aller Wirtschaftsdaten bis zum Betrieb,
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Beseitigung des staatlichen Außenhandelsmonopols,
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direkte Einflussnahme auf die Verwendung von Krediten aus dem nichtsozialistischen Ausland,
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Konkursrecht, strukturelle Arbeitslosigkeit,
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gesetzliche Grundlagen für Betriebsgründungen westlicher Unternehmen und zu deren ungehindertem Wirken in der DDR (Profittransfer, Steuervergünstigungen),
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Anleitung von DDR-Direktoren durch Schulungen in der BRD bzw. Übernahme bestimmter Leitungsfunktionen durch BRD-Manager,
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Selbstorganisation der Gesellschaft und Minimierung des staatlichen Einflusses auf Ökonomie.
Anzustreben wäre eine »ökonomische Konföderation beider deutscher Staaten« bzw. die Umwandlung der DDR in ein marktwirtschaftlich orientiertes (kapitalistisches) Land, in dem der Staat eine tragende Rolle bei der Sicherung sozialer Errungenschaften übernimmt (z. B. schwedisches Modell).
Die von den BRD-Teilnehmern vorgestellten Konzepte fanden in ihren Grundrichtungen überwiegend Zustimmung.
In diesem Zusammenhang vertrat ein Mitglied der Arbeitsgruppe »Sozialdemokratische Wirtschaftspolitik« der SDP in der DDR nahezu identische Positionen hinsichtlich der von der BRD-Seite erhobenen Forderungen.
Der Vertreter der Alternativen Liste Berlin (West), Köppl25 (wird als Konstrukteur der Rot-Grünen Koalition bezeichnet), warnte die DDR vor einer kritiklosen Übernahme westlicher Wirtschaftsmodelle. Die DDR-Wirtschaft sollte vielmehr zu einer ökologisch-sozialen Gesellschaft mit marktwirtschaftlichen Elementen unter Beachtung einer demokratischen Einflussnahme auf die Betriebe umgebaut werden, auch im Interesse der Verbesserung des Umweltschutzes.
Nach dem Amt für Nationale Sicherheit weiter vorliegenden Hinweisen nutzten darüber hinaus anwesende BRD-Vertreter vorhandene Möglichkeiten für umfangreiche Kontaktanbahnungen, zur Informationssammlung sowie zur Vermittlung von Direktkontakten zu BRD-Firmen und Bundesinstitutionen.
Festgestellte Informationsabschöpfungen der DDR-Teilnehmer konzentrierten sich auf die Gewinnung von Erkenntnissen über
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Personalien des DDR-Gesprächspartners, ökonomische Bildung und Aufgabengebiet,
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konkrete Einflussmöglichkeiten des Befragten auf Veränderungen in seinem Verantwortungsbereich,
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die Zusammensetzung der DDR-Teilnehmer an der Tagung und die Anwesenheit wirtschaftsleitender Kader,
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die Rolle und politische Zukunft des Generalsekretärs des ZK der SED,
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den Zeitraum und den Umfang des Vertrauensvorschusses für die Regierung Modrow,
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die Position der SED zur Übernahme marktwirtschaftlicher Elemente und den Stand der Vorbereitung entsprechender Gesetze, die diese marktwirtschaftlichen Elemente absichern und einen freien Zugang zu Direktkontakten mit einzelnen Betrieben gewährleisten,
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Interessen des DDR-Partners an Informationsmaterial und weiteren Kontakten (wenn ja, mit welchen Personen),
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die Nutzbarmachung der engen wirtschaftlichen Beziehungen der DDR zu RGW-Staaten auch für die BRD-Interessenten,
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den Umfang von Reduzierungsmaßnahmen in der Verteidigungsindustrie der DDR und die Überführung freiwerdender Produktionskapazitäten in verschiedene Wirtschaftsbereiche.
Nach Abschluss der Tagung erfolgte die Ankündigung, diese werde Anfang Dezember 1989 voraussichtlich fortgesetzt mit der Schwerpunktsetzung der Verbindung von Wirtschaftspolitik mit der Ökologie sowie der Friedensproblematik.
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