Ungesetzliches Verlassen der DDR, Mitarbeiter des MfAA
31. Juli 1989
Information Nr. 356/89 über den Verrat an der DDR durch einen Mitarbeiter des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der DDR
Am 25. Juli 19891 wurde intern bekannt, dass die Bürger der DDR, [Vorname 1, Name] (45), wohnhaft: [Straße, Nr.], Beruf: Diplom-Afrikanist, Dr. rer. pol. dipl. Rang: 1. Sekretär, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bereiches Grundsatzfragen und Planung des MfAA, Mitglied der SED seit 1968, gemeinsam mit seiner Ehefrau2 (2. Ehe) [Name, Geburtsname, Vorname 2] (36), Beruf: Radiologin, tätig als Ärztin in der Charité Berlin, Mitglied des FDGB, der DSF, des DTSB, Mitglied des IPPNW (»Internationale Vereinigung der Ärzte zur Verhinderung eines Atomkrieges«)3 und seinem Kind [Name, Vorname 3, Geburtsdatum], unter Missbrauch eines Urlaubsaufenthaltes (im Rahmen des Urlauberaustausches zwischen den Außenministerien der DDR und der UVR) in der Ungarischen Volksrepublik die DDR ungesetzlich verlassen haben.4
Die Information über diesen Sachverhalt wurde dem bekannten Rechtsanwalt5 am 25. Juli 1989 während seines dienstlichen Aufenthaltes in der BRD »beiläufig« übermittelt mit der Bemerkung, dass sich die ungarische Seite direkt an die Botschaft der BRD in der UVR gewandt und um Vermittlung ersucht habe. Die BRD-Botschaft habe sich jedoch nicht eingeschaltet, sondern erklärt, dass dies eine Angelegenheit zwischen Kanada und der UVR sei. Seitens staatlicher Organe der UVR erfolgte bisher keine Information an die DDR. (Streng intern ist bekannt, dass die zuständigen ungarischen Organe konkrete Kenntnis vom Aufenthalt des Diplomaten der DDR und 1. Sekretärs [Name] mit seiner Ehefrau und Sohn in der kanadischen Botschaft in Budapest haben.)6
Ausgehend von dem bekannt gewordenen Sachverhalt war am 28. Juli 1989 der Botschafter der DDR in der UVR, Genosse Vehres,7 beauftragt worden, von der kanadischen Botschaft in Budapest entsprechende Aufklärung einzuholen. Durch den Geschäftsträger a. i. der Botschaft Kanadas in der UVR wurde dem Botschafter der DDR eine Information verlesen, die folgenden Wortlaut hatte: »Der Mitarbeiter des MfAA der DDR, [Name, Vorname 1], mit Frau und Kind befinden sich in Kanada. Sie haben bei der kanadischen Botschaft Budapest um Visum gebeten, weil sie nicht in die DDR zurückkehren wollten. [Name] wurde unterstützt von einigen privaten Leuten, die Einreisewilligen Hilfe gewähren. Die zuständigen kanadischen Stellen erklärten, dass sie nicht daran interessiert sind, dass dieser Vorgang Publizität erhält. Falls doch etwas in der Presse erscheine, so wird diese Information nicht von den zuständigen Stellen ausgegangen sein.«8 Auf die Frage des DDR-Botschafters, ob es tatsächlich zutreffe, dass die Ausreise aus der UVR bereits erfolgt sei, wurde dies nochmals bestätigt.
Zur Person des [Name] ist bekannt:
Nach einem Studium am Afrika-Institut der Karl-Marx-Universität Leipzig war [Name] von [Passage mit schutzwürdigen Interessen nicht wiedergegeben].
Die letztgenannte Funktion erfüllte er nur pflichtgemäß und ohne Engagement. Er versuchte ständig, in das MfAA zurückkehren zu können, da er außenpolitischer Praktiker sei und keine pädagogischen Voraussetzungen hätte. [Name] wurde daraufhin von der Funktion entbunden, parteierzieherisch zur Verantwortung gezogen (Rüge) und in das MfAA zurückdelegiert.9
[Passage mit schutzwürdigen Interessen nicht wiedergegeben] Er ist Geheimnisträger und bestätigter NSW-Reisekader.10
Einschätzungen aus dem Dienst- und Parteikollektiv nach 1983 bescheinigen ihm Verbundenheit mit der Politik der Partei. Aus der parteierzieherischen Maßnahme habe er gelernt und sei bemüht gewesen, seinen Leumund als ehrlicher Genosse wiederzuerlangen. Ihm wird ein solides marxistisch-leninistisches Wissen bescheinigt. In der fachlichen Arbeit sei er einsatzbereit und verlässlich und ringe ständig um die Durchsetzung der erarbeiteten Erkenntnisse in der außenpolitischen Praxis. In seinem Arbeitskollektiv nehme er einen geachteten Platz ein.
Seit 1988 versuchte [Name], unter Umgehung seiner Vorgesetzten, einen Auslandseinsatz entsprechend seiner Ausbildung in einem afrikanischen Land zu erreichen. Daraufhin mit ihm geführte Kaderaussprachen ließen einen möglichen erneuten Auslandseinsatz offen. In Abstimmung zwischen der Abteilung Internationale Verbindungen des ZK der SED, der Kaderabteilung und der Kreisleitung des MfAA sowie dem MfS wurde aufgrund bestehender Sicherheitsbedenken ein Auslandseinsatz des [Name] ausgeschlossen.11
In einem auf eigenen Wunsch am 28. Juni 1989 durchgeführten Kadergespräch beim Stellvertreter des Ministers für Auswärtige Angelegenheiten der DDR, Genossen Krabatsch,12 bezüglich seines Wunsches nach einem Auslandseinsatz wurde dem [Name] dargelegt, dass die Aufgabenstellungen des Bereiches Grundsatzfragen und Planung weiter wachsen und aufgrund dessen sowie der Kadersituation auf ihn in dieser Abteilung nicht verzichtet werden könne. [Name] nahm diese Ausführungen widerspruchslos zur Kenntnis.
Hinsichtlich der zu [Name] vorliegenden sicherheitspolitischen Bedenken ist auf folgende Aspekte zu verweisen: Seine derzeitige Ehefrau, mit der er 1983 die Ehe einging ([Passage mit schutzwürdigen Interessen nicht wiedergegeben]) stammt aus einem streng religiösen Elternhaus ([Passage mit schutzwürdigen Interessen nicht wiedergegeben]) und wurde in diesem Sinne erzogen.
Die Mutter der Ehefrau unterhält im Rahmen der Herrnhuter Brüdergemeinde13 und verwandtschaftlich umfangreiche Verbindungen nach der BRD und Kanada.
Eine Schwester der Ehefrau hat 1955 die DDR ungesetzlich verlassen und lebt seitdem in der BRD.
Ein 1986 vom Bruder der Ehefrau (Ingenieur im Zentrum für Forschung und Technologie der Mikroelektronik Dresden) gestelltes Übersiedlungsersuchen14 war aufgrund seiner Tätigkeit zurückgewiesen worden.
Eine weitere Schwester der Ehefrau (Ärztin) stellte gemeinsam mit ihrem Ehemann ([Passage mit schutzwürdigen Interessen nicht wiedergegeben]) 1984 Übersiedlungsersuchen nach der BRD, dem 1988 nach aktiver Einflussnahme durch Bischof Dr. Krusche15 stattgegeben wurde. [Name] hatte seine Dienstvorgesetzten zwar über diese Übersiedlungsersuchen, jedoch nicht über die 1988 erfolgte Übersiedlung informiert.
Die bisherigen Untersuchungen lassen darauf schließen, dass [Name] seinen Verrat langfristig vorbereitet hat. In der Wohnung der Familie wurden keinerlei persönliche Dokumente (Urkunden, Qualifikationsnachweise) oder Wertgegenstände mehr vorgefunden.
Maßnahmen zur Aufklärung der Motive und begünstigenden Bedingungen des Verrats von [Name] und seiner Ehefrau wurden eingeleitet.
Aufgrund der bisher vorliegenden Erkenntnisse muss davon ausgegangen werden, dass [Name] mit Ehefrau und Sohn unter Nutzung staatlicher Mittel und Möglichkeiten Kanadas, der BRD und der UVR die DDR ungesetzlich verlassen konnte.
Es wird vorgeschlagen, über das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR in geeigneter Form entsprechende Schritte gegenüber Kanada und der Ungarischen Volksrepublik zu unternehmen, um zunächst klare Auskunft zu dem Vorgang zu erlangen und um danach über weitere Konsequenzen zu prüfen und zu entscheiden.16