Veranstaltung in der Gethsemanekirche am 8.6.
9. Juni 1989
Information Nr. 286/89 über eine Veranstaltung in der Gethsemanekirche im Stadtbezirk Berlin-Prenzlauer Berg am 8. Juni 1989
Die von feindlichen, oppositionellen und anderen negativen Kräften am 7. Juni 1989 in der Sophienkirche offenkundig mit dem Ziel der Fortführung ihrer provokatorisch-demonstrativen Aktivitäten für den 8. Juni 1989 angekündigte Veranstaltung in der Gethsemanekirche im Stadtbezirk Berlin-Prenzlauer Berg fand im Zeitraum von 20.00 bis gegen 23.00 Uhr statt.1 Es kam zu keinen, die öffentliche Ordnung und Sicherheit beeinträchtigenden Handlungen. Außerhalb der Kirche konnten keine beachtenswerten Feststellungen getroffen werden.
Über Inhalt und Verlauf der Veranstaltung, die kaum einen religiösen Bezug hatte, sondern fast ausschließlich politisch geprägt war, liegen dem MfS nachfolgende Hinweise vor:
Unter den ca. 1 500 Teilnehmern, vorwiegend aus der Hauptstadt Berlin sowie den Bezirken Potsdam, Frankfurt/O., Dresden, Cottbus, Rostock und Gera, befanden sich zum Großteil an den Vorkommnissen vom 7. Juni 1989 beteiligte Personen und hinlänglich bekannte Inspiratoren, Organisatoren und Mitglieder personeller Zusammenschlüsse, darunter Schatta,2 Schult,3 Rüddenklau,4 Mißlitz,5 Pflugbeil,6 Böttger,7 das Ehepaar Poppe8 und Bärbel Bohley.9 Darüber hinaus nahmen kirchenleitende Amtsträger und Kräfte teil wie Propst Furian,10 Präses Becker,11 Superintendentin Laudien12 sowie die Pfarrer Hülsemann,13 Passauer,14 Schneider,15 Simon16 und Pastorin Misselwitz17 sowie weitere Personen, die offensichtlich aus religiösen und anderen Gründen an der breit popularisierten Veranstaltung interessiert waren.
Festgestellt wurden ferner sieben in der DDR akkreditierte Korrespondenten westlicher Medien und ein Mitarbeiter der Botschaft der USA in der DDR.
Der Veranstaltungsverlauf war inhaltlich wesentlich geprägt durch die Darstellung des von dem personellen Zusammenschluss »Koordinierungsgruppe Wahlen« herausgegebenen, zum Verkauf angebotenen, nicht genehmigten Druckerzeugnisses »Wahlfall 89 – Eine Dokumentation«.18 Diese 30-seitige »Dokumentation« fasst bekannte »Erklärungen«, »Offene Briefe«, Eingaben feindlicher, oppositioneller und anderer negativer Kräfte in Vorbereitung, Durchführung und Auswertung der Kommunalwahlen vom Mai 1989 zusammen.
Sie enthält ferner eine politisch-negativ und tendenziös geprägte Ereignisschilderung »Information unabhängiger Gruppen über die von den Behörden niedergeschlagene Demonstration am 7. Juni in Berlin« sowie eine Erklärung der Organisatoren (Pseudonym: »Mündige Bürger«) der geplanten Provokation vom 7. Juni 1989 dazu, in welcher deren Absicht nach »Ausübung von Einfluss auf die Gesellschaft« und die Forderung nach »Dringlichkeit einer öffentlichen Kontrolle nicht nur der Wahlen, sondern der übrigen behördlichen Maßnahmen« postuliert werden.19
Unabhängig davon, dass die genannten »Erklärungen« Bestandteil der »Dokumentation« sind, wurde die Ereignisschilderung beim Einlass und während der Veranstaltung verteilt; die »Erklärung« der Organisatoren der Provokation vom 7. Juni 1989 wurde verlesen.20 Dieses Vorgehen war gezielt darauf ausgerichtet, alle Veranstaltungsteilnehmer über bisherige und geplante weitergehende Ziele und Absichten im Zusammenhang mit den Wahlen zu informieren, sie zur Unterschriftsleistung zu der in der Kirche ausliegenden bekannten Eingabe feindlicher, oppositioneller Kräfte an den Staatsrat der DDR zu veranlassen sowie ihre Zustimmung für eine »Protestresolution« an den Minister des Innern, in der das angeblich brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte verurteilt wird, zu erhalten.
Der Hauptteil der Veranstaltung wurde durch die Darstellung sogenannter Erlebnisberichte über »Verstöße gegen das Wahlgesetz« bestimmt, wobei die bekannten Positionen vertreten wurden. Vorgetragen wurden derartige »Berichte« mit Bezug auf die Hauptstadt Berlin und verschiedene Bezirke der DDR.
Das Auftreten und Verhalten kirchlicher Amtsträger während der Veranstaltung war sachlich und durch den Versuch der Nichtzulassung spontaner und in die Öffentlichkeit gehender Aktivitäten gekennzeichnet, wobei die generelle Linie der evangelischen Kirche gegenüber dem Staat nicht verlassen wurde. So verlas Pfarrer Schneider im Anschluss an seine thematisch auf die Gesamtveranstaltung ausgerichteten Predigt zum Thema »Wahrheit und Wahrheitsfindung« die bekannte Erklärung der Konferenz Evangelischer Kirchenleitungen (KKL) in der DDR vom 2. Juni 1989 zu den Kommunalwahlen im Mai 1989.21 Pfarrer Hülsemann versuchte sich an einer sachlichen Schilderung der Ereignisse vom 7. Juni 1989, bewertete jedoch den notwendig gewordenen Sicherungseinsatz und entsprechende Maßnahmen ablehnend. Propst Furian hielt eine Fürbitte für das Anliegen der Veranstaltung und übermittelte Grüße des sich zum Kirchentag in Westberlin aufhaltenden Bischofs Forck.22 Er forderte die Teilnehmer dazu auf, ruhig nach Hause zu gehen.
Der Pfarrer der Gethsemanekirche, Widrat,23 forderte von den Veranstaltungsteilnehmern, sich besonnen zu verhalten und Misstrauen abzubauen. (Es wurde erkennbar, dass auf das Verhalten der kirchlichen Amtsträger offenkundig die prinzipiellen Gespräche des Staatssekretärs für Kirchenfragen, Genossen Löffler,24 und des Stellvertreters des Oberbürgermeisters der Hauptstadt Berlin für Inneres, Genossen Hoffmann,25 mit Konsistorialpräsident Stolpe26 und des Stellvertreters des Stadtbezirksbürgermeisters für Inneres Berlin-Prenzlauer Berg, Genossen Wieseke,27 mit Superintendenten Görig,28 positiv gewirkt haben. Wie intern bekannt wurde, ließ sich Konsistorialpräsident Stolpe während der Veranstaltung fernmündlich über den Veranstaltungsverlauf informieren.)
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