Verhinderte Verbreitung von Hetzzetteln in Erfurt
7. Juni 1989
Information Nr. 284/89 über die Verhinderung einer geplanten Verbreitung von selbstgefertigten Hetzzetteln durch feindliche, oppositionelle und andere negative Kräfte in Erfurt
Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen planten Mitglieder der personellen Zusammenschlüsse »Offene Arbeit der Stadt Erfurt-Oase«1 (1984 auf Initiative des Erfurter Stadtjugendpfarrers Rothe2 gebildet; Mehrzahl der Mitglieder sind Lehrlinge, Schüler bzw. Studenten; stark orientiert auf Umweltfragen; stabile Verbindungen zur »Umweltbibliothek« Berlin3 sowie Kontakte zu Vertretern von Greenpeace in der BRD4) sowie des Arbeitskreises »Solidarische Kirche«5 (AKSK), Regionalgruppe Thüringen, am 5. Juni 1989 im Stadtgebiet von Erfurt ca. 800 selbstgefertigte Hetzzettel zu verbreiten.
Der Text dieser Hetzzettel mit der Überschrift »Wahlbetrug oder Verleumdung?« enthält unter Bezugnahme auf »flächendeckende Kontrollen« von Wahllokalen in Berlin, Potsdam, Jena, Weimar und Erfurt verleumderische Aussagen über die Ergebnisse der Kommunalwahlen sowie die Forderung nach Klärung angeblich festgestellter »Verletzungen« des Wahlgesetzes der DDR.6
Mit dem Ziel der vorbeugenden Verhinderung dieser geplanten provokatorischen Aktion wurden zunächst vier Personen zugeführt (Alter zwischen 21 und 35 Jahren; Ingenieur für Geodäsie im VEB Denkmalspflege Berlin, Außenstelle Erfurt und dessen Ehefrau – beide Antragsteller auf ständige Ausreise,7 Hausmeister im Pharmazeutischen Zentrum Erfurt, Praktikant im Stadtjugendpfarramt Erfurt).
Die Befragungen ergaben, dass die zugeführten Personen sowie zwei weitere bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht namentlich bekannte Personen in Abstimmung mit dem Vikar der Kirchengemeinde Ollendorf, Kreis Erfurt, (Mitglied des »AKSK«, Regionalgruppe Thüringen) gemeinsame Absprachen über die Durchführung dieser Aktion getroffen und die Hetzzettel in Räumlichkeiten der Kirchengemeinde Ollendorf sowie des Stadtjugendpfarramtes Erfurt unter Verwendung kircheneigener Vervielfältigungstechnik hergestellt hatten.
Als Zielstellung ihrer geplanten Aktion gaben sie vor, in der Öffentlichkeit auf das ihrer Meinung nach »manipulierte« Wahlergebnis aufmerksam machen zu wollen.
Im Ergebnis der Befragungen wurden die zwei weiteren tatverdächtigen Personen zugeführt (31 bzw. 24 Jahre; Restaurator im VEB Denkmalspflege Erfurt und dessen Ehefrau, angelernte Arbeiterin in einer privaten Buchbinderei).
Es konnten insgesamt 531 Exemplare der Hetzzettel sichergestellt werden. Ein geringer Teil (unter 100 Exemplare) war durch die Letztgenannten nach eigenen Aussagen am 5. Juni 1989 im Stadtgebiet von Erfurt verbreitet bzw. durch sie vernichtet worden.
Fünf der zugeführten Personen wurden nach intensiven Befragungen und mit dem Hinweis, dass die Anzeigenprüfung weiterläuft, am Abend des 5. Juni 1989 entlassen. Eine Person (Praktikant im Stadtjugendpfarramt) wurde zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts in Gewahrsam genommen. Sie zeigte keine Aussagebereitschaft. Ihre Entlassung erfolgte am 6. Juni 1989 ebenfalls mit dem Hinweis auf die Weiterführung des Anzeigenprüfungsverfahrens.
Über die Einleitung möglicher ordnungsstrafrechtlicher Maßnahmen gegenüber den sechs Personen wird nach umfassender Klärung ihrer Tatbeteiligung entschieden.
Der Bezirksstaatsanwalt von Erfurt informierte am 5. Juni 1989 Landesbischof Leich8 (Eisenach) telefonisch über die unter Teilnahme von kirchlichen Amtsträgern seines Verantwortungsbereiches geplante Aktion sowie über die Herstellung dieser Hetzzettel in kirchlichen Räumlichkeiten und mittels kircheneigener Vervielfältigungstechnik der Thüringer Landeskirche. Es wurde die Erwartung ausgesprochen, dass Landesbischof Leich seinen ganzen Einfluss zur Unterbindung solcher, das Staat-Kirche-Verhältnis belastende Aktivitäten geltend macht. Gleichzeitig wurde ihm der Vorschlag für ein kurzfristig stattfindendes Gespräch unter Teilnahme des Stellvertreters des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Erfurt für Inneres unterbreitet.
Leich betonte, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten persönlich dafür einsetzen zu wollen, dass künftig derartige Aktionen unterbleiben. Er nahm das Gesprächsangebot an und sicherte die Teilnahme seines Stellvertreters, Oberkirchenrat Kirchner,9 zu. Als Termin für das Gespräch wurde der 9. Juni 1989 vereinbart.
Bereits am 6. Juni 1989 fand ein gemeinsames Gespräch des Stellvertreters des Oberbürgermeisters der Stadt Erfurt für Inneres und des Mitarbeiters für Kirchenfragen beim Rat der Stadt Erfurt mit den Prosenioren des »Evangelischen Ministeriums« Erfurt statt. In diesem Gespräch distanzierten sich einerseits die beiden Kirchenvertreter von dieser Aktion und deren Organisatoren, andererseits rechtfertigten sie derartige Aktivitäten mit dem Hinweis darauf, dass ihrer Meinung nach aufgrund der Differenzen bei den Kommunalwahlen »das Vertrauen gestört« sei und besonders junge Menschen in ihrer Ungeduld zu derartigen Handlungen übergegangen seien. Sie verwiesen darauf, das Vorkommnis einer Prüfung unterziehen und sich mit dem zuständigen Stadtjugendpfarrer von Erfurt beschäftigen zu wollen.