Verlassen der DDR, September 1989
9. Oktober 1989
Information Nr. 450/89 über die Lage im Zusammenhang mit dem Verlassen der DDR
Nach dem MfS bisher vorliegenden Hinweisen sind im Monat September 1989 insgesamt ca. 61 500 Personen mit Aktivitäten der ständigen Ausreise1 nach der BRD bzw. nach Westberlin sowie des ungesetzlichen Verlassens der DDR nach dem nichtsozialistischen Ausland in Erscheinung getreten.
Dabei handelt es sich um
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ca. 25 200 Bürger der DDR, die die DDR ungesetzlich verlassen haben, darunter
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ca. 23 600 Personen, die seit Öffnung der Grenze der UVR nach Österreich am 11. September 19892 aus der UVR nach Österreich (seit diesem Zeitpunkt täglich ca. 200 bis 600 Personen) ausgeschleust wurden,
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1 568 Personen unter Missbrauch des Reiseverkehrs nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin;
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17 612 Personen, die für ständig aus der DDR ausgereist sind, davon
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10 770 Personen, deren Anträge auf ständige Ausreise nach der BRD bzw. Westberlin durch die zuständigen staatlichen Organe genehmigt worden waren,
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6 842 Personen, die gemäß zentraler Entscheidung im Zusammenhang mit ihrem rechtswidrigen Aufenthalt in den Botschaften der BRD in Prag (5 966 Personen) und Warschau (876 Personen) am 1. Oktober 1989 nach der BRD abgeschoben wurden;3
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15 853 Bürger der DDR, die einen Antrag auf ständige Ausreise nach der BRD bzw. Westberlin gestellt haben (darunter befindet sich auch eine noch nicht vollständig aufgeklärte Anzahl von Personen, die nach der Antragstellung im Zusammenhang mit diesen Botschaftsbesetzungen in Prag und Warschau bereits nach der BRD abgeschoben wurden bzw. die über die UVR nach Österreich – Ziel BRD – gelangten);
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2 822 Bürger der DDR, deren Aktivitäten zum ungesetzlichen Verlassen der DDR verhindert wurden, darunter ca. 1 400 Festnahmen bzw. administrative Ausweisungen durch die Sicherheitsorgane der ČSSR und der VR Polen.
Entsprechend ihrer Qualifikation/Tätigkeit befinden sich unter den Personen, die im Monat September 1989 die DDR ungesetzlich verlassen haben, einschließlich der bisher identifizierten Bürger der DDR, die über die UVR nach Österreich ausgeschleust wurden, u. a. 101 Ärzte, 40 Zahnärzte, sechs Tierärzte, 155 Diplomingenieure/Ingenieure, 83 Lehrer, einschließlich Hoch-, Fach- und Berufsschullehrer, 14 Direktoren, 24 Haupt-/Abteilungsleiter, 243 Krankenschwestern/med.-techn. Assistentinnen/Krippenerzieherinnen und 158 Studenten.
Die im Zusammenhang mit dem Verlassen der DDR geführten Untersuchungen zu den Motiven dieser Personen bestätigen erneut, dass die bereits mehrfach herausgearbeiteten Faktoren, die unterschiedlich ausgeprägt sind und häufig als Komplex wirken, für den überwiegenden Teil dieser Personen unter Berücksichtigung des maßgeblichen politischen Einflusses des Gegners als Gründe bzw. Anlässe für ihre diesbezüglichen Handlungen und Verhaltensweisen entscheidend waren.
Als wesentliche Gründe bzw. Anlässe wurden herausgearbeitet: Unzufriedenheit über die Versorgungslage, Verärgerung über unzureichende Dienstleistungen, Unverständnis für Mängel in der medizinischen Betreuung und Versorgung, eingeschränkte Reisemöglichkeiten innerhalb der DDR und nach dem Ausland, unbefriedigende Arbeitsbedingungen und Diskontinuität im Produktionsablauf, Unzulänglichkeiten und Inkonsequenz bei der Anwendung/Durchsetzung des Leistungsprinzips sowie Unzufriedenheit über die Entwicklung der Löhne und Gehälter, Verärgerung über bürokratisches Verhalten von Leitern und Mitarbeitern staatlicher Organe, Betriebe und Einrichtungen sowie über Herzlosigkeit im Umgang mit den Bürgern sowie Unverständnis über die der realen Lage in der DDR widersprechenden Medienpolitik.
Von wesentlicher Bedeutung für die endgültige Entschlussfassung zum Verlassen der DDR sind dabei die Resignation und der Unglaube an positive Veränderungen dieser Lage und damit auch an der Erfüllung ihrer persönlichen Erwartungen an die weitere Entwicklung.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass – nach bisher vorläufigen Hinweisen – im Zeitraum vom 1. Januar bis einschließlich 30. September 1989 insgesamt ca. 116 000 Personen die DDR verlassen haben, davon
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79 987 Personen, die für ständig aus der DDR ausgereist sind; unter ihnen
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73 145 Personen, deren Anträge auf ständige Ausreise nach der BRD bzw. nach Westberlin durch die zuständigen staatlichen Organe der DDR genehmigt worden waren,
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6 842 Personen, die gemäß der zentralen Entscheidungen im Zusammenhang mit ihrem rechtswidrigen Aufenthalt in den Botschaften der BRD in Prag und Warschau am 1. Oktober 1989 nach der BRD abgeschoben wurden.
(Weitere 8 655 Personen, davon 8 012 aus der BRD-Botschaft in Prag und 643 Personen aus der BRD-Botschaft in Warschau, wurden am 5./6. Oktober 1989 nach der BRD abgeschoben.)
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ca. 36 000 Bürger, die die DDR ungesetzlich nach dem nichtsozialistischen Ausland verlassen haben, darunter
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ca. 23 600 Personen, die seit Öffnung der Grenze der UVR aus der UVR nach Österreich ausgeschleust wurden,
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ca. 9 000 Personen unter Missbrauch des Privat-, Touristen- und Dienstreiseverkehrs nach dem nichtsozialistischen Ausland.