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Zusammenwirken SPD, evangelische Kirche und Personengruppen

4. September 1989
Information Nr. 386/89 über sicherheitspolitisch zu beachtende aktuelle Aspekte des Zusammenwirkens von Führungskräften der SPD mit Vertretern der evangelischen Kirchen und personeller Zusammenschlüsse in der DDR

Nach dem MfS vorliegenden streng internen Hinweisen verfolgen Führungskräfte der SPD gegenüber der DDR das strategische Ziel, langfristig innenpolitische »Wandlungsprozesse« analog entsprechender Vorgänge in einigen anderen sozialistischen Staaten ingangzusetzen, um die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung durch Formen und Prinzipien der bürgerlichen Demokratie entsprechend ihrer Konzeption vom »demokratischen Sozialismus« zu verändern.

Entsprechend dieses Konzeptes missbrauchen sie in zunehmendem Maße ihren Aufenthalt in der DDR zum Zwecke des Führens offizieller Gespräche im Rahmen des politischen Dialogs zur Intensivierung von Kontakten zu Vertretern der evangelischen Kirchen sowie zu feindlichen, oppositionellen und anderen negativen Kräften in der DDR.

Darüber hinaus verstärken sie ihre Anstrengungen zum Auf- und Ausbau von individuellen Kontakten zu solchen Personenkreisen unter Missbrauch des Reiseverkehrs, der sogenannten kirchlichen Partnerschaftsarbeit und anderer Partnerschaftsbeziehungen, darunter der Städtepartnerschaften.

Hinsichtlich der Umsetzung ihres Konzeptes sind dabei im Wesentlichen zwei taktische Vorgehensweisen beachtenswert. Solche SPD-Spitzenpolitiker wie Brandt,1 Vogel2 und Bahr3 treten für eine gewisse Zurückhaltung der SPD bei der Unterstützung sogenannter oppositioneller Gruppierungen in der DDR ein. Ihrer Auffassung nach müsse es der SPD darum gehen, in Umsetzung des gemeinsamen Dokumentes SED – SPD4 ihre Kontakte zu den evangelischen Kirchen in der DDR und zu »politisch Andersdenkenden« auszubauen, um auf diese Weise als Vermittler zwischen ihnen und der SED zu wirken und damit gegenüber der SED den Nachweis der Dialogfähigkeit mit solchen Personenkreisen zu erbringen. Ihrer Meinung nach gehe es nicht darum, Konfrontation zu unterstützen, sondern die »Akzeptanz kritisch-oppositioneller Kreise« als Bestandteil der Gesellschaft in der DDR zu erreichen.

Diese genannten Politiker befinden sich damit in Übereinstimmung mit dem Beschluss des Parteivorstandes der SPD »Grundsätze für die Wahrnehmung von Kontakten mit der SED und deren Gliederungen sowie mit Institutionen, Parteien, Organisationen und Gruppierungen in der DDR« vom 26. Juni 1989,5 der erstmalig in einer für die gesamte SPD verbindlichen Orientierung dazu auffordert, die offiziellen Kontakte in der DDR für die erhöhte Einflussnahme auf die Kirchen und auf feindliche, oppositionelle Kräfte in der DDR zu nutzen und dabei sozialdemokratisches Gedankengut zu verbreiten.

Dagegen setzen sich solche maßgeblichen SPD-Politiker wie Ehmke,6 Voigt,7 Glotz8 und Stobbe9 für eine konfrontativere Politik gegenüber der DDR ein. Sie begründen diese Haltung mit dem Legitimationszwang der Politik gegenüber der Öffentlichkeit in der BRD und mit der Notwendigkeit, das »kritische Potenzial« in der DDR weiter zu mobilisieren.

Sichtbarer Ausdruck für diese Haltung sind die in jüngster Zeit von Ehmke und Voigt offiziell erhobenen Forderungen nach Durchführung von politischen Reformen und der Förderung von »Reformkräften« in der DDR, die westliche Massenmedien für eine erneute Verleumdungskampagne gegenüber der DDR zum Anlass nahmen.10

Einen besonderen Stellenwert nehmen bei führenden Politikern der SPD ihre Kontakte zu kirchenleitenden Personen und kirchlichen Amtsträgern der evangelischen Kirchen in der DDR ein.

(Nach dem MfS vorliegenden Erkenntnissen reisten führende SPD-Funktionäre im Zeitraum vom 1. August 1988 bis 1. August 1989 in 37 Fällen zu solchen Personen bzw. zur Teilnahme an kirchlichen Veranstaltungen in die DDR ein oder stellten anlässlich offizieller Gespräche auf staatlicher Ebene entsprechende Kontakte her.)

Diesen Aktivitäten liegt die erklärte Absicht zugrunde, insbesondere die evangelischen Kirchen in der DDR als politisches Potenzial für innenpolitische Veränderungen in der DDR im Sinne sozialdemokratischer Gesellschaftskonzeptionen nutzbar zu machen.

Als wesentliche Ansatzpunkte hierfür werden gesehen, die kirchlichen Möglichkeiten als Freiraum zum Wirksamwerden oppositioneller, alternativer Gruppierungen und Kräfte, die auf der bürgerlichen Ideologie basierenden politischen Grundpositionen kirchenleitender Personen und Amtsträger sowie bestehende Abhängigkeiten der evangelischen Kirchen in der DDR von der »Evangelischen Kirche Deutschlands« (EKD) in der BRD.

Streng internen Hinweisen zufolge sind derartige Zusammenkünfte neben der politischen Selbstdarstellung und dem Abschöpfen von Informationen vorrangig über das aktuelle Staat-Kirche-Verhältnis in der DDR hauptsächlich darauf ausgerichtet,

  • unter Nutzung kirchlicher Kräfte und Möglichkeiten sozialdemokratisches Gedankengut in die DDR-Bevölkerung hineinzutragen,

  • bestimmte kirchliche Kreise in deren Bestrebungen zu bestärken, sich als eigenständige politische Kraft in der Gesellschaft zu profilieren und damit den Politisierungsprozess in den evangelischen Kirchen in der DDR voranzutreiben,

  • die Kirchen und Christen in der DDR dahingehend zu beeinflussen, sich für die »Bewahrung der Einheit der deutschen Nation« einzusetzen.

Beachtenswert sind auch die Kontakte politischer Führungskräfte der SPD zu feindlichen, oppositionellen Kräften in der DDR. Neben der Informationsabschöpfung über Vorhaben und konkrete feindlich-negative Aktivitäten dieser Kräfte einschließlich der darauf erfolgten staatlichen Reaktionen wird der Inhalt derartiger Kontakte wesentlich dadurch bestimmt, diese DDR-Kontaktpartner in ihrem subversiven Wirksamwerden zu bestärken, ihnen Orientierungen für sogenannte Alternativprogramme sozialreformistischen Inhalts zu vermitteln und Handlungsanleitungen für feindlich-negative Aktivitäten unter demagogischer Bezugnahme auf Aussagen des gemeinsamen Dokuments SED – SPD zu geben.

Von besonderer Bedeutsamkeit sind in diesem Zusammenhang intern bekannt gewordene Hinweise, wonach in sozialdemokratischen Führungskreisen, insbesondere seitens Mitglieder des Kurt-Schumacher-Kreises,11 Aktivitäten unternommen werden, um feindliche, oppositionelle Gruppierungen und Kräfte zu inspirieren, in der DDR eine sozialdemokratische Partei zu gründen, die möglichst alle »alternativen« Kräfte, das gesamte kritische Potenzial in einer Art gemeinsamer Oppositionspartei vereinen und als politischer Faktor in der Öffentlichkeit wirksam werden soll. Diesem Personenkreis zuzuordnen sind auch solche SPD-Politiker wie der stellvertretende Landesvorsitzende der SPD Bayerns, Stiegler12 (MdB), und der SPD-Bundestagsabgeordnete Niggemeier,13 die beide öffentlich die Wiederzulassung der SPD in der DDR forderten14 (jüngste offizielle Äußerungen des SPD-Vorsitzenden Vogel sowie der Westberliner SPD-Politiker Momper15 und Löffler,16 in denen die Notwendigkeit einer Neugründung der SPD oder anderer politischer Parteien in der DDR unter den derzeit gegebenen politischen Bedingungen bezweifelt bzw. abgelehnt wird, sind offenkundig politisches Zweckverhalten).17

Im Ergebnis der gezielten gegnerischen ideologischen Einflussnahme und mit Blick auf die Neugründung und das Wirksamwerden einer sozialdemokratischen Partei in der Ungarischen Volksrepublik entwickeln nach vorliegenden Hinweisen hinlänglich bekannte feindliche, oppositionelle Kräfte, hauptsächlich tätig im kirchlichen Bereich, entsprechende Aktivitäten zur Bildung einer sozialdemokratischen Partei in der DDR. Einige der Initiatoren sind bereits aus dem Stadium interner Überlegungen und Absprachen hinaus und mit Duldung bzw. Unterstützung kirchenleitender Personen und westlicher Massenmedien an die Öffentlichkeit getreten.

Am 26. August 1989 informierte Pfarrer Meckel18 (Magdeburg) die Teilnehmer eines im Gemeindesaal der Golgathagemeinde Berlin stattgefundenen sogenannten Menschenrechtsseminars (ca. 55 Personen waren anwesend) über die geplante Bildung einer sogenannten Initiativgruppe, die sich mit Vorstellungen zur Schaffung einer sozialdemokratischen Partei in der DDR19 beschäftigen soll. Er erläuterte die zu diesem Zweck bereits erarbeiteten konzeptionellen Vorstellungen. Seinen Ausführungen zufolge wird die Erarbeitung eines Programms einer ökologisch orientierten sozialdemokratischen Gesellschaft in der DDR durch diese »Initiativgruppe« angestrebt. Nach seinen Vorstellungen müsse davon ausgegangen werden, in der DDR für einen »Demokratisierungsprozess« entsprechende Voraussetzungen und Bedingungen zu schaffen. Notwendig sei der »Abbau des absoluten Wahrheits- und Machtanspruchs der SED« und die Beseitigung des Widerspruchs zwischen »ideologischem Anspruch und Wirklichkeit« durch eine demokratische Entwicklung »von unten« und »politischem Pluralismus« als wesentliche Grundlage für einen innenpolitischen Dialog. Es ginge um eine politische Alternative, die an »Demokratie und sozialer Gerechtigkeit« orientiert ist, die in einer breiten politischen Öffentlichkeit zur Diskussion gestellt werden müsse. Einer in der DDR zu bildenden sozialdemokratischen Partei müssten – gemeinsam mit weiteren zu schaffenden »demokratischen Organisationsformen« wie z. B. Vereine, Bürgerinitiativen und sonstige »demokratische« Bewegungen – solche Prinzipien zugrunde liegen wie »Entmonopolisierung und Demokratisierung der Macht in Staat und Gesellschaft« sowie »demokratische Kontrolle« des Staates durch den einzelnen Bürger.

Die Grundzüge dieser sogenannten neuen Gesellschaft sollen u. a. gekennzeichnet sein durch

  • »Rechtsstaatlichkeit, strikte Gewaltenteilung« und »Parteienpluralität«,

  • »soziale Marktwirtschaft«,

  • »Freiheit der Gewerkschaften und Streikrecht«,

  • »Vereinigungs-, Versammlungs- und Informationsfreiheit«.

(Der Wortlaut dieser fünfseitigen konzeptionellen Vorstellungen wird als Anlage beigefügt. Er wurde bereits geringfügig gekürzt in der BRD-Tageszeitung »Frankfurter Rundschau« am 31. August 1989 veröffentlicht.)20

Pfarrer Meckel kündigte auf vorgenannter Veranstaltung an, dass ein Aufruf zur Mitarbeit in dieser »Initiativgruppe« ab 3. September 1989 in allen sog. kirchlichen Basisgruppen21 verbreitet werden soll.

Entsprechend zentraler Festlegungen führte der Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Magdeburg für Inneres am 30. August 1989 ein Gespräch mit Pfarrer Meckel, in dem dieser aufgefordert wurde, alle Aktivitäten zur Bildung einer sogenannten Initiativgruppe einschließlich der Propagierung diesbezüglicher Aufrufe u. Ä. unverzüglich einzustellen. Meckel negierte diese Forderung u. a. mit dem Hinweis darauf, dass sein Handeln nicht nur von seinem Amt als Pfarrer her, sondern auch aus der Sicht des Bürgers bewertet werden müsste.

In einem am gleichen Tage mit Bischof Demke22 (Magdeburg) geführten Gespräch sicherte dieser zwar eine Einflussnahme auf Pfarrer Meckel zu, schwächte diese Zusage jedoch mit der Bemerkung ab, wenn einer das persönliche Risiko wolle, sehe er (Demke) seine Möglichkeiten zur wirksamen Einflussnahme als gering an. Seine indifferente Haltung gegenüber den Aktivitäten Pfarrer Meckels widerspiegelte sich auch in der Äußerung Bischof Demkes, wonach er aus dem kirchlichen Selbstverständnis, dass Pfarrer auch Bürger der DDR sind, Gedanken über eine Parteigründung ohne Benennung von Inhalt und Zielen nicht abwegig bewerte.

Streng internen Hinweisen zufolge beabsichtigen auch Führungskräfte einiger personeller Zusammenschlüsse sogenannte Sammlungsbewegungen u. Ä. zu bilden, die in Übereinstimmung mit entsprechenden Orientierungen politischer Führungskräfte in der BRD darauf abzielen, eine einheitlich ausgerichtete und organisierte innere Opposition in der DDR zu formieren. In diesem Sinne sprach sich auch Pfarrer Schorlemmer,23 Leiter des Predigerseminars Wittenberg (wiederholt als Verfasser sogenannter alternativer Konzepte politisch-negativen Inhalts und als aktiver Teilnehmer an Zusammenkünften feindlicher, oppositioneller Kräfte in Erscheinung getreten), in einem Interview für die Schaffung einer »konstruktiven Alternative« in der DDR zur Erreichung einer »pluralistischen sozialistischen Demokratie« aus.24

Wie weiter streng intern bekannt wurde, planen antisozialistische Kräfte aus der UVR, der ČSSR, der VR Polen und der DDR die Durchführung einer Zusammenkunft im Oktober 1989. Ziel dieses Treffens soll es sein, auf der Grundlage einer Einschätzung der Lage in den genannten Ländern Überlegungen für die Schaffung von »Bewegungen sozialdemokratischen Charakters« anzustellen und Möglichkeiten zu erörtern über Inhalte und Methoden der Unterstützung oppositioneller Kräfte in der ČSSR und der DDR, um diese darin zu bestärken, die »Druckausübung zur Demokratisierung der politischen Systeme« dieser beiden Länder zu intensivieren (Maßnahmen zur Verhinderung der Teilnahme von Personen aus der DDR an einem solchen Treffen wurden eingeleitet).

Zur vorbeugenden Verhinderung derartiger geplanter Vorhaben wird vorgeschlagen:

1. Die Gespräche seitens der zuständigen Stellvertreter der Vorsitzenden der Räte der Bezirke und Kreise für Inneres mit den diesbezüglichen Initiatoren und Organisatoren und mit den betreffenden kirchenleitenden Personen sind zielgerichtet fortzusetzen, verbunden mit der Erteilung entsprechender Auflagen unter Berufung auf die Verfassung und die geltenden Rechtsvorschriften der DDR.

2. Es sind alle bestehenden rechtlichen Möglichkeiten zur Verhinderung des Wirksamwerdens derartiger Personen auszuschöpfen, insbesondere die Bestimmungen der Verordnung über die Gründung und Tätigkeit von Vereinigungen sowie der Verordnung über die Durchführung von Veranstaltungen.25

Die Information ist wegen äußerster Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.

Anlage zur Information Nr. 386/89

[Abschrift einer] Vorlage zur Bildung einer Initiativgruppe mit dem Ziel, eine sozialdemokratische Partei in der DDR ins Leben zu rufen

1.

In Osteuropa ist einiges in Bewegung geraten und viele Menschen bei uns empfinden dafür eine große Sympathie. Hoffnungen und Erwartungen beginnen auch in der DDR zu wachsen. Viele Bürger haben an Selbstbewusstsein gewonnen. Dennoch muss man feststellen, dass die Situation immer noch insgesamt von einem lähmenden Ohnmachtsgefühl beherrscht wird. Dies zeigt sich u. a. darin, dass man zwar Veränderungen wünscht und erhofft, zugleich aber glaubt, selbst nichts tun zu können.

So warten viele darauf, dass die herrschende Partei sich ändert, oder man wartet auf einen Mann wie Gorbatschow.26 Eine solche Haltung aber bleibt im Passiven und spricht sich letztlich eine Zuständigkeit und Verantwortlichkeit für diese unsere Wirklichkeit ab. Doch auch und gerade wenn die Partei sich verändert, braucht es Bürger, die selbstständig ihre Verantwortung für unsere Wirklichkeit erkennen und bereit sind, sie wahrzunehmen.

Die Zeit drängt. Und nicht nur, weil die Ungeduld wächst.

Solange nichts Grundlegendes gegen die Widersprüche und Negativentwicklungen in unserem Land getan wird, geht mehr und mehr Unwiederbringliches verloren.

Die Zehntausende, die enttäuscht das Land verlassen, können hier nichts mehr tun und verstärken die Resignation der Zurückbleibenden.

Was an natürlichen Lebensbedingungen und Ressourcen aufgebraucht oder zerstört ist, lässt sich nicht ohne Weiteres wieder herstellen. Wir leben von der Substanz und damit auf Kosten unserer Kinder. Wir verlieren mehr und mehr den Reichtum unseres geschichtlichen Erbes und damit unsere Identität.

Strukturen organisierter Verantwortungslosigkeit zerstören die moralischen Grundlagen und die Bereitschaft, Risiken für selbstverantwortetes Handeln in Gesellschaft und Staat auf sich zu nehmen.

Es bedarf heute grundlegender Bemühungen vieler, um die Voraussetzungen und Bedingungen zu schaffen, die für einen Demokratisierungsprozess erforderlich sind.

2.

Unsere Gesellschaft wird durch den absoluten Wahrheits- und Machtanspruch der SED bestimmt, auf den hin alle Verhältnisse in Staat und Gesellschaft geordnet sind.

Die Kluft zwischen ideologischem Anspruch und Wirklichkeit tritt jedoch immer klarer hervor.

Die notwendige Demokratisierung unseres Landes hat die grundsätzliche Bestreitung eines solchen absoluten Wahrheits- und Machtanspruchs zur Voraussetzung. Dazu gehört eine offene geistige Auseinandersetzung mit den Grundlagen des Stalinismus und seiner Ausprägung in Geschichte und Gegenwart der DDR.

3.

Die Demokratisierung unserer Gesellschaft bedarf grundlegender programmatischer Bemühungen und solcher Bürger, die die dafür notwendige Kompetenz mitbringen bzw. gewinnen. Hier ergibt sich ein besonders schwieriges Problem, denn das Ziel jahrzehntelanger Kaderpolitik der SED war es, geistige und politische Kompetenz außerhalb des Personenkreises derer, die zu Loyalitätserklärungen bereit waren, zu verhindern.

Angesichts dieser Lage halten wir folgende Bemühungen für notwendig:

  • a)

    Die Erarbeitung einer politischen Alternative für unser Land, die an politische Traditionen anknüpft, die an Demokratie und sozialer Gerechtigkeit orientiert sind. Zu diesen Traditionen gehört an wichtiger Stelle die des Sozialismus. Dieser ist durch die Geschichte der letzten Jahrzehnte weitgehend diskreditiert worden. Angesichts der heutigen Situation im sozialistischen Lager ist es einfach nicht mehr angebbar, welche ökonomischen und politischen Strukturen der Vision des Sozialismus entsprechen können.

    Um hier nach neuen Wegen zu suchen, bedarf es der schonungslos kritischen Bestandsaufnahme der geistigen, politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Situation unseres Landes.

  • b)

    Die Herstellung und Entfaltung einer politischen Öffentlichkeit, in der über geistige, wirtschaftliche, soziale und politische Ziele und Wege in unserem Land gestritten werden kann.

    Eine wichtige Aufgabe ist es, das Gefühl von Verantwortung und Zuständigkeit der Bürger über die Verhältnisse in unserem Land zu stärken und zu wecken und dazu zu ermuntern, sich Kompetenz zu erwerben, die gesellschaftliche Wirklichkeit aktiv mitzugestalten.

    Wir brauchen Bürger, die willens und in der Lage sind, in einem demokratischen Gemeinwesen politische Macht zu kontrollieren und auch auszuüben, und die in der Sphäre der Gesellschaft ihr Leben selbstverantwortlich gestalten.

4.

Politische Existenz und politisches Handeln bedarf der Gemeinschaft, d. h. demokratischer Organisationsformen, in denen die Interessen und der politische Wille der in ihr Verbundenen sich entfalten und zur Geltung bringen kann. [sic!] Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten: Vereine, Bürgerinitiativen, demokratische Bewegungen, Parteien, Gewerkschaften etc. Ohne derartige politische Organisationen ist ein demokratisches Gemeinwesen nicht möglich.

Aufgrund der Tatsache, dass die politischen Parteien und Organisationen in unserem Land diese Aufgabe zurzeit nicht erfüllen, ist es notwendig, dass es zur Entfaltung dieser Möglichkeiten und zu Neugründungen kommt.

5.

Wir, die Unterzeichnenden, halten für den künftigen Weg unserer Gesellschaft die Bildung einer sozialdemokratischen Partei für wichtig.

Wir wissen, dass dies zurzeit legal nicht möglich ist.

Deshalb machen wir den Vorschlag, eine Initiativgruppe zu bilden, die für die Voraussetzungen einer legalen Parteigründung und ihre Vorbereitung arbeitet.

6.

Ziel: Eine ökologisch orientierte soziale Demokratie

Das Grundprinzip demokratischer Erneuerung heißt Entmonopolisierung und Demokratisierung der Macht in Staat und Gesellschaft. Das bedeutet nicht die Aufhebung des Staates und seines Gewaltmonopols, sondern demokratische Kontrolle der einzelnen, mit klar begrenzten Kompetenzen ausgestatteten, staatlichen Institutionen.

Das erfordert eine möglichst klare Unterscheidung von Staat und Gesellschaft und entsprechende Strukturen im Aufbau des Staates, d. h. eine Gliederung des Staates in selbstständige und selbstverantwortliche Substrukturen.

Aufgabe des Staates ist es,

  • die sozialen, kulturellen und politischen Grundrechte der Bürger und die ihnen entsprechende Wahrnahme von Verantwortung zu ermöglichen, zu stärken und zu schützen;

  • den Schutz der natürlichen Umwelt und die Sicherung von Ressourcen und Lebensmöglichkeiten für kommende Generationen zu gewährleisten.

Allen Monopolisierungen in Staat und Gesellschaft ist entgegenzutreten, insofern sie die sozialen und politischen Rechte der Bürger beeinträchtigen und verkehren. Für die Wirtschaft bedeutet dies u. a. strikte Antimonopolkontrolle (auch im Hinblick auf den staatlichen Sektor). Unvermeidbare Monopole bedürfen strengster demokratischer Kontrolle und der Überprüfung ökonomischer Effizienz.

7.

Stichworte zum Programm

A) Zur Ordnung von Staat und Gesellschaft

  • Rechtsstaat und strikte Gewaltenteilung

  • parlamentarische Demokratie und Parteienpluralität

  • Sozialstaat mit ökologischer Orientierung

  • relative Selbstständigkeit der Regionen (Länder), Kreise, Städte und Kommunen (finanziell, wirtschaftlich, kulturell)

  • soziale Marktwirtschaft mit striktem Monopolverbot zur Verhinderung undemokratischer Konzentration ökonomischer Macht

  • Demokratisierung der Struktur des Wirtschaftslebens u. a. durch betriebliche Mitbestimmung

  • Förderung von Gemeinwirtschaft und Genossenschaften (mit freiwilliger Zugehörigkeit und gleichberechtigter Privatwirtschaft)

  • Freiheit der Gewerkschaften und Streikrecht

  • strikte Religions- und Gewissensfreiheit

  • Gleichberechtigung und Förderung von Frauen

  • Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit für alle demokratischen Organisationen

  • freie Presse und Zugang zu den elektronischen Medien für alle demokratischen Organisationen

  • Gewährung von Asyl für politische Flüchtlinge.

B) Zur Außenpolitik

  • Anerkennung der Zweistaatlichkeit Deutschlands als Folge der schuldhaften Vergangenheit

  • besondere Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland aufgrund der gemeinsamen Nation, Geschichte und der sich daraus ergebenden Verantwortung

  • Entmilitarisierung der Gesellschaft und des Gebietes der DDR

  • Schaffung einer europäischen Friedensordnung, in der Warschauer Vertrag27 und NATO28 überflüssig sind

  • erweiterter und gerechter Handel mit am wenigsten entwickelten Ländern, orientiert an deren Bedürfnissen

  • Solidarität mit entrechteten und unterdrückten Völkern und nationalen Minderheiten.

Niederndodeleben, den 24.7.1989

Martin Gutzeit29 | Markus Meckel

  1. Zum nächsten Dokument Flucht und Ausreise im Medizinsektor, 1. Halbjahr 1989

    4. September 1989
    Information Nr. 395/89 über Stand und Entwicklungstendenzen des ungesetzlichen Verlassens der DDR sowie der Antragstellung auf ständige Ausreise nach nichtsozialistischen Staaten durch Ärzte/Zahnärzte und Angehörige des mittleren medizinischen Personals aus dem staatlichen Gesundheitswesen und dem Bereich Medizin des Hoch- und Fachschulwesens sowie einige Hinweise zu den Ursachen und Motiven (Zeitraum 1. Januar bis 30. Juni 1989)

  2. Zum vorherigen Dokument Herstellung nicht genehmigter Hetzschriften (Kurzfassung)

    4. September 1989
    Information Nr. 168b/89 über die Herstellung und Verbreitung nicht genehmigter Druck- und Vervielfältigungserzeugnisse antisozialistischen Inhalts und Charakters durch Personen, die personellen Zusammenschlüssen angehören [Kurzfassung]